Von Evy Schubert | Uraufführung 2016 | Ballhaus Ost | Berlin


Evy Schubert

Ich, das Museum

Wieder in neuen Zimmern, in einer neuen Wohnung, in einer fremden Stadt, an einem Ort, den manche bereits Zuhause genannt haben, manche aber ganz entschieden auch nicht. Gerade nicht. Natürlich nicht. Und auf gar keinen Fall.

Diese, eine Stadt ohne Namen, weil ich ihn nicht nenne, damit sie geschichtslos bleibt. Endlich eine Stadt ohne Referenz, keine Beweise des Dagewesenen oder Kommenden, Erwartbaren.

Ich bin da, jetzt und hier. Als wäre ich immer schon da.

Ich bin eben erst gekommen. Man weiß sich zu orientieren, wundert sich auch nicht, dass es keinen Herd gibt, statt einer Küche, ein Waschbecken. Es ist einfach so.

Dann: Einrichtungen wiederholen sich.

Auch der Diktator war hier. Sagt man.

Ja, ich habe die Möbel verrückt. Das was man eben so macht, um sich sich selbst ein wenig Individualität zu zu sprechen. Vor allem, wenn man an einen unbekannten Ort gelangt und weiß, man wird hier vorerst bleiben. Egal wie kurz. Der Anspruch des ersten, originären, noch nie da gewesenen Eindrucks. Heute: meiner.

Aber da ist kein Eindruck. Nur Ausdruck: ich gehöre jetzt zu diesem Inventar dazu.

Kleiderschrank, Sitzecke, Blumenvase, ich.

Meine Vorgeschichte mag gewesen sein, aber sie ist physisch nicht mehr da. Nicht hier. Ich berühre, nein, meine Hand berührt die Türklinke zum Salon und denkt natürlich nicht, nein ich als Verlängerung meiner Hand denke natürlich nicht darüber nach, wer diese schon vor mir zum Öffnen hinunter gedrückt hat, dann den Fuß als Verlängerung eines anderen Ichs über die Schwelle gesetzt hat, um was zu sagen, um was zu tun?

Vielleicht und vermutlich nichts von Bedeutung. Und dann hat diese Person etwas vergessen und ehe sie einen weiteren Schritt nach vorne, wieder als Verlängerung eines möglicherweise gerade auch abwesenden Ichs, setzen kann, hält sie schon wieder inne und greift nach einer Peitsche, um dann, die Person feilt offensichtlich an dem richtigen, einem ehrwürdigen Auftritt, wieder durch die Tür hindurch zu schreiten ohne innezuhalten, mit Schwung und Elan, erhobenem Kopf und dann ist das Ich auch da, so ganz da und selbstherrlich schreitet es über die Schwelle mit seinem Körper, Händen und Füßen und der Peitsche und tritt aus dem Zimmer, die eine Hand schließt die Tür, die andere lässt die Peitsche durch die Luft sausen, um dem Parkett im Flur so richtig eins über zu braten und die Person atmet dabei genussvoll ein und wieder aus und schreitet weiter, sieht sich um, hofft auf Wirkung, aber ach, da ist ja niemand.

Niemand hat all das gesehen.

Die Peitsche erschlafft und ist so gar nicht mehr bedrohlich, die Person verlässt das Gebäude und niemand wird sich daran erinnern. Die Person betrachtet die Peitsche und bekommt jetzt eine Wut auf diesen Gegenstand dessen Funktion ohne Anwesenheit Dritter selbstverständlich ausbleibt, und das ist der Moment, in dem die Wut den Menschen komisch werden lässt. Die Person schaut die Peitsche an und diese wird der Person auf einmal ganz unangenehm, weil sie als Bedrohung versagt hat. Das Versagen der Peitsche wird zum Versagen der Person. Der Person tritt Schamesröte in die Wangen, kriecht da den Hals empor. Die Person diagnostiziert: Blamage. Dann schaut sich die Person um und wird immer kleiner, die Peitsche mit all ihrer Peinlichkeit dafür immer größer, das Ich wieder verschwunden, niemand guckt, natürlich nicht, und dann kommt die Person an einem Gebüsch vorbei und die Person wirft die Peitsche ganz schnell hinein, endlich ist dieses nutzlose Werkzeug verschwunden, die Person schaut sich um, vergewissert sich, dass dieser Vorgang unbemerkt bleibt, zieht daraufhin das Jackett zurecht, der neue Auftritt beginnt genau jetzt, hier und noch mal von vorn, ohne Peitsche, es wird eingeatmet und die Person lächelt schon fast selbstsicher, will den Kopf gerade etwas aufrichten und den Schritt beschleunigen, würde da nicht die Peitsche wie ein Boomerang aus dem Gebüsch direkt zurückfliegen und der Person ins Gesicht klatschen. Gleichzeitig öffnen sich alle Fenster sämtlicher Nachbarn, die ihre Betten ausschütteln und die fliegende Peitsche und ihren Peiniger beobachten, während sie da so schütteln, brechen sie in ein schallendes Gelächter aus, das immer lauter und heiterer wird und dazu tanzen die Federbetten in der Luft und sind ebenfalls ganz glücklich. Paradiesisch. Wäre da nicht die Diagnose der Minderheit: die Blamage. Und die Person weiß, jetzt geht es nicht mehr um den Auftritt, jetzt geht es nur noch um den Abgang.

Das hätte durchaus gewesen sein können.

Kleiderschrank, niemand drin, Staubwedel, ich.

Wahrscheinlich ist es nicht geschehen.

Ich bin immer noch in diesen Zimmern. Ich bin Inventar in Bewegung. Inventar mit Atem und einer Stimme. Sprechendes, denkendes Inventar. Und dann wird man irgendwann sagen, diese Person war da und eine neue Person, die dann irgendwann nach der Inventur Inventar wird, wird sich auch meiner jetzigen Gegenwart und dann Vergangenheit verwehren und schon wieder die Möbel verschieben. Und vielleicht sagen, das hier ist mein Ort. Hier bin ich und nur ich und was davor war gilt nicht.

Alternativ: ich werde eine Berühmtheit. Man wird sich auf mich beziehen. Zwangsläufig. Ich als Diktator. Warum nicht. Und dann werden Sie sich in meinem Ruhm oder eben an meinem Abschaum suhlen. Der Diktator war hier! Dann wird die Vergangenheit memoriert und schon wieder haben wir ein Museum ohne Gegenwart.

Die Person war eine Frau. Überrascht?

Ich will der Geschichte nicht begegnen.

Gardinen, Fischgrätenparkett, Nicht-Ich.

Die Geschichte umgibt mich.

Ich sehe all diese Personen nicht vor mir. Ich weiß, dass Sie hier waren, aber ich verschließe mich der Vorstellung. Ich lasse Sie nicht zu. Erst recht nicht an diesem historisch so bedeutsamen Ort. An den Wänden: Photographien, die beweisen wollen. Empfindungen dann als Vergangenheiten ohne Photographien.

Ich werde hier keine Namen nennen, keine von denen die gewesen sein könnten oder gewesen sind. Ich wehre mich gegen den Museumsdirektor. Vergangenheit als ein alias.

Aber der Museumsdirektor in mir sagt: ich sei bereits historisch aufgearbeitet. Ich stelle mich nicht mehr aus. Und dann doch. Immer wieder. Es passiert mir einfach.

Kleiderschrank, Schreibtisch, ich. Ich als Staubfänger.

Ich spreche der Geschichte ihre Bedeutung ab, sie wird nicht mehr gewesen sein. Wo ist der Museumsdirektor jetzt?

Und dann schaut man doch in die Schubladen und Schränke hinein und findet nichts. Anonyme Belanglosigkeiten, die zurückgelassen worden sind und keine Geschichte erzählen, weshalb sie zurückgelassen worden sind. Und dann will man konstruieren, eine Packung Teebeutel als Tatwerkzeug. Aber nicht jetzt.

Dann plötzlich und zum Trotz: wieder der Diktator.

Ich lösche das Licht, nachts und da kommt er zur Tür herein. Ich sage nicht „Guten Abend“. Er erwidert meinen ausbleibenden Gruß nicht, schaut mich nur an, mit seinem autoritären Körper, bleibt in dem Türrahmen stehen, als wolle er höflich sein. Blickt von oben herab und steht da, macht nichts, sagt nichts, aber er ist da. Ich habe ihn nicht gerufen.

Warum sollte ein Diktator höflich sein? Ich richte mich folglich und selbstverständlich nicht auf, auch wenn er ein Diktator ist. Oder gerade, weil er ein Diktator ist. Ich bleibe liegen und schaue ihn an. Warum soll ich mich verhalten? Warum sollte ich höflich sein? Gegenüber einem Diktator. Ausgerechnet ich. Wer sagt das? Der Diktator sagt jedenfalls gar nichts. Ich wusste nicht, dass Diktatoren so schweigsam sind. Immerhin braucht er keine Peitsche. Er hat Autorität an sich. Das muss ich dem Diktator schon zusprechen. Das macht er gut. Die Person mit und ohne Peitsche könnte einiges von ihm lernen.

Nichts passiert. Er steht. Ich liege. Ich mustere seine schweren Stiefel, die mächtige Statur, den Umhang, den breiten Gürtel. Dann doch das Gefühl einer Angst, nur weil ich weiß, dass er der Diktator ist. Schon wieder ist da die Geschichte, die in meinem Kopf spazieren geht. Aber die Geschichte ist doch eigentlich gar nicht mehr da. Sie war da. Was hat sie mit mir zu tun? Warum ist er hier? Ich dachte, er hatte sich vor Jahrzehnten mit einem Kopfschuss das Leben genommen und daraufhin verbrennen lassen. Warum frage ich ihn nicht? Jetzt wo er schon mal da ist. Ich könnte ihn fragen, ob der Abzug geklemmt habe, damit er sich daraufhin für das Leben und gegen die Verbrennung entscheiden konnte, um vor der Justiz und dem Galgen zu fliehen und hier zu erscheinen. Jahrzehnte später. Ich könnte ihn auch fragen, warum er Diktator wurde und was er jetzt eigentlich so macht, wo doch nur über seine, eine Vergangenheit gesprochen wird. Der Diktator in ihm ist abgespielt. Sie wollten ihn nicht mehr. Aber er ist hier. Als Diktator. Jetzt. Was haben Sie all die Jahre gemacht? Ich könnte das fragen. Ich habe noch nie mit einem Diktator gesprochen. Wenn ich jetzt etwas sagen würde, könnte ich ihm auch sagen, dass er sich über all die Jahre erstaunlich gut gehalten hat, er sieht genauso aus, wie auf den Photographien. Ein Schulbuch, das lebt. „Historie – nicht gealtert“ und der Museumsdirektor hat endlich einen neuen Slogan. Ich könnte ihn also loben. Den Diktator. Für seine Vitalität. Für sein Aussehen. Die Kosmetikindustrie wird einen neuen Boom erleben. Da bin ich mir sicher. Ich lasse es patentieren, auf der Verpackung ein Abbild des einstigen Herrschers. „Der diktatorische Jungbrunnen!“ Ich könnte Bewunderung aussprechen: „Sie haben das sehr gut hinbekommen!“ Könnte ich sagen. Er sieht aus wie ein Fünfzigjähriger, siebzig Jahre später. Ich tue es nicht, wir schweigen. Er steht, ich liege. Also wahrscheinlich Faltencreme. Das wäre der Beweis von Wirkung.

Bettdecke, Türrahmen, niemand da, ich.

Ich lebe in einem Museum. In einem Museum der anderen.

Dann: ich als Museum.

Nur die Besucher bleiben aus.

Nein, ich stelle mir nicht vor, wer hier vor meiner Zeit gewohnt hat, weder vor hundert Jahren, noch vielleicht bis heute morgen, als ich diese Zimmer bezog. Momente, an denen Geschichte ganz unwesentlich wird. Ich schiebe die Geschichte weg, weil Geschichte nicht ohne Vorstellung funktioniert. Ich will frei sein von Vorstellung! Wenn ich aber über die Möglichkeit der ausbleibenden Vorstellung nachdenke, beginne ich ja doch vorzustellen. Die Unendlichkeit an Möglichkeiten, die hätte gewesen sein können und die unwiderruflich sein wird. Das ist ja das Grausame! Die Vorstellung hört einfach nicht auf!

Heizungsrohr, Staubwedel, ich.

Ich bin kein toleranter Mensch. Du sollst keine Vergangenheiten neben mir haben.

Fenstergriff, Ausblick, Falke, ich.

Auch du sollst keine Vergangenheit haben.


Fashionably late

Kleiderschrank, Diktator, Museumsdirektor, eine Person, eine Geschichte.

„Wovor haben Sie denn Angst?“
Vor meiner Vorstellung.

Und dann geht man doch los. Aber fashionably late. In die Halböffentlichkeit eines Lokals.Und plötzlich ist man Teil einer geschlossenen Gesellschaft. Eine Ansprache wird gehalten, als Lobrede. Wie immer allgemein, vage, „Ihr ward alle so großartig!“ Wobei, weiß man nicht. Plötzlich als Zaungast, man setzt sich, ganz selbstverständlich. Man ist nicht berührt, man ist einfach da. Man kennt niemanden, aber man gehört plötzlich dazu. Alle heben ihre Gläser, prosten sich zu. Ich nicht. Augen, die einen daraufhin entdecken, sich aber höflich verhalten und sich nun im Stillen eine Funktion überlegen, die ich daraufhin einnehme. Für sie. Sie rechtfertigen mich durch ihre Zuschreibung. Danke! Ich brauche das also selbst nicht mehr zu tun. Ich nicke selbstverständlich und schlüpfe in die Rolle, die ihr euch wünscht. Ich bin definitiv keine Juristin, da bin ich mir sicher, aber wie ich nun vernehme auf der Abschlussfeier einer Fernsehproduktion. „Ihr ward alle super!“ In meinem jugendlichen Sweatshirt, die Hände tintenverschmiert, klar, ich bin der Setrunner, der immer gerade nicht da war, wenn man ihn gebraucht hat. Trotzdem wird in Erinnerungen geschwelgt, auch wenn die Gegenwart noch nicht vergangen ist, das Zusammensein wird während es sich vollzieht bereits als ein Abgeschlossenes behandelt, ich werde Teil dieser Erinnerungen ohne jemals Teil genommen zu haben. Das Ende vorab, Leben übersprungen. „Ihr ward alle so großartig! Auch wenn das Wetter schrecklich war.“ Phrasen. Ich bekomme eine Vorstellung von dem fertigen Film, der hier begossen wird.

Ein Museumsdirektor, ein Diktator, eine Person, die eine Frau ist und der Setrunner.

Treffen sich zufällig.

Der Ich-Erzähler ist immer jemand anderes. Roulette aus Möglichkeiten. Russisch Roulette mit einem goldenen Revolver.

Ein Anlass, Feierlichkeit und keiner lacht. Gleich werde ich gehen, die Zeche prellen oder der Produktionsfirma überlassen. Es wird niemand bemerken. Die Augen, immer noch höflich, ich werde gerechtfertigt. Ich kann machen, was ich will, ich werde einfach akzeptiert. Ich gehe.

Doch nicht. Noch nicht. Jetzt klatschen alle ganz brav. „Es war wirklich toll!“ Das Klatschen bleibt eins ohne Nachhall. In wenigen Sekunden wird man es bereits vergessen haben.

Ich werde erkannt. Plötzlich habe ich eine Biographie. Ich fliege auf. Die fremde Stadt schützt mich nicht mehr.

Ich bin folglich kein Setrunner, nie gewesen, sondern tatsächlich ich. Mit meinem Ich konfrontiert, mit dem Bild meines Ichs, das ein anderer aus einer anderen, meiner Stadt mitbringt, an diesen Tisch, wo ich nun sitze. Plötzlich mit einer, meiner Vergangenheit. Tatort. Ich habe es mir gedacht. Der Hauptdarsteller und ich, ein kurzer Smalltalk. Ich bin kein Setrunner. Ich verarbeite, was ich sehe. Den Rest erfinde ich dazu, assoziiere ich. Assoziiere mich, assoziiere euch, erfinde euch. Ihr, die ihr jetzt plötzlich werdet und nie gewesen seid.

Er macht Understatement. Ich profiliere mich. Vermutlich weil Zaungast oder weil labberiges Sweatshirt mit Tinten verschmierten Händen oder weil uns beiden in diesem Moment bewusst wird, wir befinden uns an einem fremden Ort, die Begegnung folglich eine absolut Unerwartete, also zieht man Referenzen, Schlüsse, eine Höflichkeit, die leider nicht ausbleibt, man nutzt den anderen zur Bestätigung des Selbst, natürlich liegt es nahe nach dem Grund des Hierseins und des nicht Dortseins zu fragen.

Als Abschiedsgeschenk bekommen sie alle einen Ginkobaum. „Es gibt auch Plastiktüten für den Transport nachhause!“ – „Großartig!“ Was ausbleibt: Inspiration. Er merkt das auch. Er weiß das. Dann: Entwertung. Durch mein Hiersein neigt er zur Rechtfertigung. Ich habe das nicht von ihm verlangt. Nun beginnt er, sich zu profilieren, ich mache Understatement.

Sie haben ein großes Buffet hergerichtet. Dafür zahle ich monatlich. ARD. Danke. Leider habe ich keinen Hunger, sonst könnte ich doch noch mal Setrunner sein. Der Setrunner der nicht arbeitet, sondern der Setrunner, der immer nur frisst.

Ich muss die ganze Zeit lachen. Die Tatsache in einer fremden Stadt zu sein, verbreitet einen ungeheuren Schutz.
Warum? Man ist großzügiger mit seinem Selbstbewusstsein, weil man ohne Referenz, ohne Vergangenheit, ohne ein von außen, ohne Vorstellung eines von außen ist. Bis zu dem Moment, wo man nicht mehr der Setrunner ist, den alle in einem sehen wollten.

Und schon wieder Smalltalk. Er findet Gefallen an mir, an seinem von außen, das nicht er ist. Er findet das scheinbar erfrischend, weil auch er in dieser Nacht, einen Abnehmer sucht, jemand anderes sein zu können, als der, der hier auf der Feierlichkeit ohne Gelächter herumsteht. Ein Hauptdarsteller plötzlich ohne Körperhaltung. Was ich dann sehe: auch kein Arsch in der Hose. Ich meine das nicht metaphorisch, da ist tatsächlich kein Hintern.

Ich bin definitiv kein Setrunner. Ich bin Autorin. Unter anderem. Wir haben das nun geklärt. Man wird automatisch bewundert, obwohl das Gegenüber keine einzige Zeile gelesen hat und nicht wissen kann, dass sein Ausdruck, der mir hier nun als Eindruck dient, gerade in diesem Moment verarbeitet wird. Hierarchisierung der Künste. Würde er dies lesen, würde er nicht mehr bewundern.

Man weiß über die allgemeine Minderwertigkeit des Fernsehens. Leider bin ich nicht der fressende Setrunner, der gleich die Ginkobäume von den Tischen reißen wird, um sie als Pyramide zu stapeln und daraufhin mit einem Spagat über diese Ginkopyramide hinweg zu springen, damit hier doch mal etwas anderes als bloßes Rumstehen und Rumschieben geschieht. Ein Sprung, der selbstverständlich schon nach dem Abheben missglücken wird, ich vergaß das Buffet, das ich kurz zuvor zu mir genommen habe. Als fressender, arbeitsunwilliger und absolut fauler Setrunner. Also, der Spagat misslingt, ich rutsche aus, schieße in die Ginkopyramide hinein, die daraufhin über den Boden schlittert wie auch ich, damit ich mir an dem nächsten Stehtisch einen Zahn ausschlage, während um mich herum Kinnladen herunterklappen und der, mein Rausschmiss nun unabkömmlich ist. Der fressende Setrunner hat sich nun wirklich daneben benommen. Da kann man dann nicht mehr sagen „Ihr ward alle so großartig“. Das war einer zu viel.

Leider bin ich kein Setrunner. Ich kann mich nicht als Setrunner fehl verhalten, kann noch nicht mal als Setrunner herausgeworfen werden.

Ich bin Autorin. Unter anderem.

Aber ich kann mich aus dieser Geschichte, die noch gar nicht begonnen hat, heraus schreiben. Ohne weitere Exkurse zurück ins Museum.

Mein schneller Schritt eines Städters wird den Setrunner entlarven, der kein Setrunner, kein Fressack und keine Autorin mehr ist, nie gewesen sein wird. Man soll gehen, wenn es am Schönsten ist. Sagt man. Spagat! Das wär’s gewesen!

Bewegtes Inventar, bewegbares Inventar vor der Inventur. Autonomes Inventar.

Der Saal leert sich, Ginkobäume schauen aus Plastiktüten heraus, grüne, zarte Köpfe, die zur Tür hinaus getragen werden, werden nie Bestandteil einer Pyramide für eine scheiternde Akrobatiknummer ohne Artisten sein, ohne einen selbsterklärten Artisten, der mal übergewichtiger Setrunner war und eigentlich herausgeworfen werden wollte, der auch jetzt nichts anderes mehr möchte, als endlich herausgeworfen zu werden. Der Artist, der kein Setrunner war, jetzt aber immer noch Autorin ist und zu viel Autorität hat, die Bewunderung spürt, weil er schreibt, weil das als etwas Höheres gilt, kann nie mehr hinaus geschmissen werden.

Der Handlungsort verlagert sich. Endlich. Ich schreibe ihn um. Verlasse ihn mit Worten. Gleich wird er nicht mehr sein. Wir werden ihn vergessen. Auch den Rausschmiss, der nicht stattgefunden hat, werden wir vergessen.

„Wir sind nicht im Museum.“
– „Nein. Wir sind im Kopf der Autorin.“
„Du hast eine ganz schön kranke Phantasie!“
– „Danke!“

Die Musik wird unerträglich. Es ist kein Rausschmiss mehr nötig. Ich gehe.
Gerne.
Absolut freiwillig.

Ich verlasse eure Geschichte. Ohne zu bezahlen. Das übernimmt die ARD. Also doch ich. Ich kann nicht herausgeschmissen werden. Ich kann noch nicht mal die Zeche prellen. Niemand eilt mir hinterher. Niemand ist entrüstet. Höflichkeit als Krankheit. Man redet es sich schön, man leugnet den Party Pooper. Ich gehe absolut selbstverständlich, ohne Abschiedsgruß. Ich drehe mich nicht um. Gleich werdet ihr nicht mehr gewesen sein.

Ein Museumsdirektor, ein Diktator, eine Person, die eine Frau ist und kein fettleibiger Setrunner, der nie Artist oder Autorin war.

Im Museum.

Das Sterbedomizil eines Wahnsinnigen. Später dann das Sterbedomizil einer Persönlichkeit. Das hier wird kein Theaterstück. Das hier wird die Geschichte einer Biographie ohne Geschichte. Eine Geschichte, die niemals stattgefunden hat. Eine Geschichte, die jetzt passiert.

Russisch Roulette

Kleiderschrank, niemand drin, Stehlampe, du.

Nun bin ich hier.

Jetzt glänzt man, aber irgendwann glänzt man dann eben nicht mehr! Irgendwann ist das dann einfach vorbei. Auch im Museum.

Was mache ich hier? Ich werde bezahlt, um Großartiges zu leisten. Ich, die Auserwählte, auf den Spuren einer prägenden Persönlichkeit. Ich soll ein Theaterstück schreiben. Das ist mein Auftrag. Hier, in diesem Museum. Warum?

Als Alternative zur ARD.

Ich bin unglaublich faul. Ich mache überhaupt nichts. Umgeben von Historie, so viel Historie, dass kein neuer Gedanke entsteht. Ich bin genau so faul, wie die mich umgebenden Objekte. Tatenlos. Da, um begafft zu werden. Ich schleiche durch die Zeit und betrachte. Was? Ein Raum zu Füllen, mit Gedanken, Taten, Worten. Ausschließlich aus meiner Schöpfung heraus, der Schöpfung eines Museumsinventars. Ich bin die Inspiration, womit man wieder bei der Vorstellung ist, die ich ablehne.

Wo ist Erkenntnis jenseits von Vorstellung?

Es ist Museumspause, noch nicht mal ein Besucher, der kommen könnte, um mich anzuschauen. Mich das Museumsobjekt, das jetzt auch kein Objekt mehr ist, weil die Besucher ausbleiben. Ich, absolut funktionslos. Das bezahlte Objekt, das Großartiges leisten soll, weil auf Spuren der Vergangenheit, weil Nachfolger im Sterbedomizil des Wahnsinnigen, der dann eine Berühmtheit wurde und als solche immer noch verehrt wird. Man pilgert an seinen Ort, dahin, wo ich jetzt lebe, ich werde repräsentativ gewürdigt. Wenn irgendwann die Besucher kommen. Wenn jemals wieder Besucher kommen. Ich, die keine Berühmtheit ist, die nichts Großartiges leistet, noch nicht mal ARD, ich als Stellvertreter. Sonst ist auch keiner da. Wenn das Museum nicht geschlossen wäre, wenn irgendwann mal nicht mehr Museumsferien sind, dann. Bis dahin, warte ich, als Platzhalter und Stellvertreter.

Das Treppenhaus hinab, in den Salon, der im Halbdunkel liegt. Niemand da. Ich höre ihn trotzdem, ihn den Diktator, wie er plötzlich und endlich auch mal redet: „Beschäftigen wir uns doch lieber mit den verschiedenen Abstufungen eines Flirts.“ Und dann die Person, von der ich gesagt habe, um Sie zu überraschen, sie sei eine Frau, die aber jetzt doch ein Mann ist, die dann sagt, aber nicht zu ihm, sondern zu dem Museumsdirektor, der jetzt plötzlich auch erschienen ist: „Du hast mir in all den Jahren noch nie den großen Zeh abgelutscht!“ Hä? Und der Museumsdirektor ist empört „Sag mal!“, wie es sich gehört für einen Museumsdirektor und dann philosophiert der Diktator weiter: „Oder mit dem Ausbleiben eines Flirts. Wenn nichts alles wird. Sehen Sie denn nicht, das Inventar will befriedigt werden!“ und der Museumsdirektor fügt sich den Anweisungen des Diktators sofort, selbstverständlich ist er ein Verfechter jeglicher Bürokratie und Autorität „Ich hole den Staubwedel!“ Da schweigt der Diktator: „…“ Vielleicht redet er doch nicht so gerne? Oder: Qualität statt Quantität. Wahrscheinlich. Dann ist er auch wieder verschwunden, die Person auch. Der Museumsdirektor war bereits abgegangen. Das Halbdunkel im Treppenhaus ist noch da, ich auch.

Messingkleiderhaken, leerer Kassentisch, mein Blick, ich.

Ich atme Geschichte.

Da ist sie wieder, die Person, ich verstecke mich hinter dem Treppenabsatz, luke hervor: „Ich kannte dich gar nicht, aber ich frage mich immer noch, warum du mir niemals den großen Zeh abgelutscht hast!“ Und der Museumsdirektor antwortet ins Halbdunkel hinein, etwas schmeichelhaft: „Wie kommen Sie hierher und was machen Sie hier?“ Jetzt wird es doch spannend. Die Person ebenso schmeichelhaft, geradezu pathetisch: „Ihre Vorstellung hat mich überkommen. Nun bin ich da.“ Ich muss husten, er hat wirklich überhaupt keinen Staub gewischt. Warum hat er der Putzfrau nicht Bescheid gegeben? Ich huste schon wieder, räuspere mich und Weg sind sie. Schade.

Treppenhaus, Messingkleiderhaken, mein Schritt, der wieder hinauf und wieder hinunter und wieder hinauf geht. Der obere Bereich ist für die Besucher – welche Besucher? – durch ein rotes Samtseil, das über der Treppe baumelt, abgesperrt. Ich steige über die Absperrung hinweg.

Ich bin kein Knabberfisch und möchte auch gar nicht von deinen Hautschuppen leben! Wem oder warum sage ich das jetzt?

Ich setze mich dem Museum aus.

Wann kommen die Besucher, dass ich endlich Objekt sein kann? Dass mein Glanz sich endlich übertragen kann. Ein Objekt mit Funktion. Funktion der Betrachtung und dadurch unweigerlich höhere Selbstbewertung des Betrachters selbst: er, der Besucher, hat sich mit der Geschichte auseinandergesetzt, dafür benutzt er mich, mich das lebende Ausstellungsstück. Also dankt er mir. So wird es dann sein. Ich werde durch eure Zuschreibung. Ich werde großartig! Wo seid ihr denn? Wann kommt ihr denn?

Po auf Po

Es sind immer noch Museumsferien. Im Salon im Erdgeschoss alles von Wert immer noch sicher verpackt, verschlossen. Auch die Totenmaske macht Winterschlaf im Safe. Leere Räume. Was gibt es noch? Ein Lüftungsgerät, welches die Luftfeuchtigkeit reguliert. Es summt. Endlich ein Objekt neben mir mit Stimme. Allerdings redet es ziemlich monoton und beherrscht. Wir haben uns nicht viel zu sagen, es ist auch kein guter Zuhörer, es summt ununterbrochen. Dann ein Flügel. Stumm. „Bitte nicht berühren! Ne pas toucher s.v.p.! Do not touch please!“ steht auf einem kleinen Kärtchen. Ein freundlicher Hinweis mit unkontrollierbarem Zwang zur Folge. Natürlich muss ich berühren. Das Lüftungsgerät beschwert sich nicht, also streichele ich über den Flügel und da ist sie wieder, die Hand als Verlängerung eines Ichs, die Geschichte berührt und durch die Berührung knüpfe ich an, automatisch, an die Vorstellung. Ne pas toucher. Erst recht jetzt. Ich als Nachfolger, Stellvertreter, Platzhalter und lebendes Ausstellungsstück, der Besucher, ohne Besucher zu sein, darf das. Ich nehme mir das raus. Ich berühre also, was vor mir Geistesgrößen zu musikalischem Volumen erweckt und berührt haben. Die einzige Ausnahme neben mir: die Putzfrau. Es wird doch hier eine Putzfrau geben? Oder muss ich wieder husten und alleine streicheln?

Vielleicht sollte ich hier neben dem Flügel auf sie warten. Dann hätte ich jemanden zum Reden, vielleicht ist sie nicht so monoton wie das Lüftungsgerät, bestimmt hat sie mehr zu sagen, mehr zu denken, wenn sie irgendwann kommt, die Putzfrau, oder Reinemachfrau bzw. Haushälterin – jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie das geht so p c sein und so -, also bestimmt mehr als das Lüftungsgerät.

Ich rufe die Geister nicht.

Hier hat er gesessen. Jetzt will ich, dass mich die Geschichte durchdringt, Po auf Po sozusagen. Das erlebe ich, sonst nichts, er bedeutet mir immer noch nichts. Er war da schon im Wahn, letzte Jahre letzter Atemzüge, nun Po auf Po mit einem Jahrhundert dazwischen. Er hat da gesessen und keinen Satz, schon gar nicht einen von Bedeutung, mehr hervorgebracht, vielleicht nur das Licht gesehen. Po auf Po im Sonnenstrahl. Jetzt 116 Jahre später. Po auf Po im Korbgeflecht. Ein dünnes Seil schützt dieses Geflecht vor unzähligen, weiteren Hinterteilen, die sich theoretisch setzen könnten, wenn irgendwann mal keine Museumsferien mehr sind. Ich schneide es durch, setze mich, keiner bemerkt es. Ich auf dem Korbgeflecht, das sie einst aus Lateinamerika importierte. Gab es damals schon oder immer noch oder bereits Kinderarbeit? Vermutlich. Also, Po auf Po auf kindgeflochtenem Korb. Geflochtener Kinderkorb: hoffentlich ohne Verdauungsprobleme. Ich finde das nun nicht mehr schön. Kein Geist, der in mich eindringt, kein Wahn, der entstehen, kein Genie, das ich werden könnte, noch nicht mal ARD. Po auf Po auf Kinderarbeit ohne ARD. Oder gerade: für die ARD „Kinderarbeit historisch aufgearbeitet. Mit dem Po durch die Zeit“ oder so ähnlich. Welche Politur verwendet man? Was wird zum Schutz der Historie empfohlen? Der Flügel ist weich, ne pas toucher, das Korbgeflecht nicht. Mein Po juckt. Ich stehe auf, kratze Mein geschundenes Hinterteil: Strapazen der Zeitreise. Was lasse ich zurück? Ein dünnes Seil, zerschnitten, ich mache keinen Knoten hinein. Ich gehe weiter, hinterlasse Spuren. Was sehe ich noch?

Mich. Als Spiegelung im Fenster. Hallo!

Ich kann immer noch reden. Ich habe tatsächlich noch eine Stimme. Die Spiegelung lächelt zurück. Und dann bekommt das Museumsinventar, also ich, eine Wut auf all die anderen leblosen Inventare. All die Zeugnisse und all den aufgeladenen Glanz, weil es nicht lebt, aber ich lebe hier, alleine mit einem toten Geist, dem alle glauben wollen und den alle leben wollen, den aber die wenigsten verstehen, und der sowieso schon im Wahn war und hier lebe nur ich, in diesem Museum, wo noch nicht mal eine Putzfrau oder ein Sicherheitsbeauftragter vorbei kommt, hier wo einfach niemand redet. Kein Nachtdienst. Ich könnte das Museum enträumen, ab auf den Schwarzmarkt ohne je etwas Großartiges geleistet zu haben. Ich entscheide mich für den goldenen Hammer, Bestandteil einer goldenen Campingausrüstung, was macht die hier bei mir, hier im Museum? Wo sind die Heringe? Und haue ihm eins über den Kopf. Ihm, der hier nur als Büste, als steinerner Kopf auf einem Sockel, ihn, für den ich jetzt einen Namen gefunden habe: „Natriummann das wars!“ Das Spiegelbild lächelt mich stolz an. Ich zwinkere zurück. „Mach’ kaputt, was dich kaputt macht!“ – „Genau!“ Was wird die Putzfrau sagen, wenn sie jemals kommt? Wie stehe ich nun zu dem ausbleibendem Sicherheitspersonal? Immerhin könnten wir noch etwas erleben, zusammen, nicht nur ich mit meinem Spiegelbild und dem zerbrochenen, steinernen Haupt, sondern: „Der geistige Nachfolger durch den Po-auf-Po- Kult vom Wahn befallen, greift zum vergoldeten Gummihammer!“ Ich schreibe meine eigene Schlagzeile. Schlagzeilen braucht der Mensch. Ich bin meine Schlagzeile und schlage euch mit meinem Goldgummihammer ins Gesicht.

Und dann schlägt der Richter mit seinem Gummihammer mir ins Gesicht oder auf sein Pult. Also auch wieder Po auf Po. Po auf Po auf der Anklagebank im Gericht. Sicherlich mit höherer Po-auf-Po-Frequenz als im Kinderkorbgeflecht des Museums. Ich bin noch nicht verrückt genug, der Po-auf-Po-Kult hat nicht stark genug gegriffen, ich werde verurteilt. Für einen Schlag auf die Historie nicht nur ein Eintrag in die Akte. Definitiv auszuschließende Zukunft: ARD. Fortan kein Docutainment zu Kinderarbeit.

Vielleicht hätte sich Natriummann gefreut, wenn ich ihm damals, vor über einem Jahrhundert bevor sich unsere Hinterteile in der Linearität der Zeit begegneten, wenn ich oder sonst irgendjemand ihm mit einem vergoldeten Gummihammer den Schädel eingeschlagen hätte.

Ich bin durchaus kein Konstruktivist. Ich schöpfe nur aus dem Nichts und dann kommt das alles. Natriummann hat das ganz gut gemacht. Vielleicht war er am Ende frei von Vorstellung?!

Und dann beginnt man zu träumen, träumt sich weg und dann schwebe ich zurück ins Treppenhaus, das immer noch im Halbdunkel, über die Stufen hinauf, durch das Schlüsselloch auf das Fischgrätenparkett und drehe mich im Kreis. Mein Spiegelbild ist verschwunden. „Tschüss!“

Die Veredelung, einer, meiner selbst. Ich erkenne nicht und nichts. Ich lasse mir nun mein Gesicht vergolden. Ich bereite mich vor. Optimierung meiner selbst als Statue. Ich Goldi. Ich als vergoldetes Museumsstück. Nicht antiquiert, aber wertvoll. Ungeheuer wertvoll. Der Zahn der Zeit. Im Testament: Angaben zur Wahl der Politur.

Fischgrätenparkett, niemand da, Campingkocher, ich. Wo sind die Heringe!?

Das Museum ist still. Man hört überhaupt nichts. Kein Knarren im Holz des anderen Jahrhunderts. Meine Gedanken sind laut. Da ist kein von außen. Leblose Gegenstände, die mich nicht beweisen.

Ich möchte mir nicht mit deiner Toilette die Zähne putzen. Wo kommt das jetzt her? Wem sage ich das? Bestimmt nicht dem Lüftungsgerät im Erdgeschoss.

Wo nur die Besucher bleiben?

Kein Klimaschutz

Das Museum liegt ruhig auf seinem Hügel, über der Stadt, die nachts durch ihren Lichterglanz wesentlich größer wirkt, am Tage aber wie ein kleiner Marktplatz in einem Tal einer weiten Hügellandschaft vor sich hin zu schlummern scheint und den Begriff Provinz in Anspruch nimmt.

Das Gebäude: Zeugnis und Sinnbild für die Dekadenz, Exotismus und Vorahnung von Zerfall.

Fensterfront, mein Ausblick, kein Spiegelbild. Ich.

Die Zerdehnung der Zeit. Was sind Stunden? Welche Einheiten haben noch Gültigkeit? Irgendwann wird meine Zeit an diesem Ort vorüber sein. Was lasse ich zurück?
Hier geht es um Freiheit. Um die Freiheit von Vorstellungen.

Und dann läuft man los. In die Felder, die hinter dem Haus liegen. Immer schneller, bergauf, bergab, in den Wind hinein. Irgendwas muss man ja tun. Und läuft. Der Wind peitscht einem ins Gesicht, zerzaust das Haar. Egal. Aber da sind sie immer noch, all die Worte, die Vorstellungen formulieren. Hinter jedem Grashalm warten sie und ich laufe schneller, damit ich sie nicht vernehme, damit mein Ich einmal nicht Begrifflichkeiten zusammenfügt, entwirft und Schlüsse zieht, Bilder schreibt, sich selbst beschreibt. Dann kommen sie mit dem Wind. Ich laufe bis zur totalen Erschöpfung, gelange wieder vor das Haus, Magnetismus, Mist, nehme den Seiteneingang, weil Bewohner, und werde empfangen von meinem Fischgrätenparkett auf dem Worte tanzen, die nur auf mich gewartet haben, sie zusammen zu setzen und hier zu verschriftlichen. Egal was. So fügt man sie zusammen und hofft auch noch, ihnen einen Sinn zu verleihen. Immer von einem von außen bestimmt. Identität, die nur äußerlich verstanden, gelebt und kommuniziert werden kann, die man entsprechend gestaltet, um verstanden zu werden, obwohl sie innerlich erlebt wird. Ich bin nicht frei, da meine Worte bereits durch ein von außen in mich eingedrungen sind. Keine eigene Sprache, keine eigene Sprache für mein Selbst, nur das Bewusstsein und Vermögen, aus Bestehendem zu schöpfen und zu gestalten, zu arrangieren. Mich selbst zu arrangieren. Mich als Statue in Pose zu bringen. Warum suche ich hier immer noch nach Sinn?

Deckenleuchte, Flügeltüren, Zeuge meiner geistigen Verfassung: ich.

Was tun?

Man will irgendwo ankommen. Und dann will man immer wieder weg. Immer wieder weiter.

Entwertung von Geschichte. So ist es nicht gewesen. Nach keiner wahren Begebenheit.

Ich drehe alle Heizungen auf. Auf Höchststufe. Dazu öffne ich alle Fenster, von denen es hier viele gibt. Ich öffne sie so weit wie möglich. Ein warmer Wind weht durch meine Gemächer. Ich an der Südsee. Das Klima stimmt. Die Haare flattern. Herrlich. Ein Ausstellungsobjekt kennt keinen Klimaschutz. Ich übe mich im Fehlverhalten. Ich hoffe, ähnlich wie der nicht vorhandene Setrunner, endlich hinausgeworfen zu werden. Solange okkupiere ich die Vergangenheit. Ich oktroyiere ihr meine Vorstellungen auf. Ich bin wahnsinnig. Wahnsinnig politisch.

Besuch

Ich habe bestellt. Und dann kommen Sie. Sitzordnung. Zuweisen von leeren Stühlen. Bitte füllen Sie den Raum. Was bringen Sie mit? Lauter Vorstellungen. Ihre Vorstellungen.
Der Besuch bestätigt mir meine geistige Verfassung. Ja, ich bin ein Museumsobjekt mit Vorstellungskraft. Danke. Eigentlich könnt ihr jetzt auch wieder gehen. Mir reicht es. Und dann dringt sie wieder durch, diese Höflichkeit. Also bewirte ich. Ein Museumsobjekt, das servieren kann. Man staunt. Am Waschbecken, das die Küche ersetzt, ich stelle mir vor, ein Pulver, schnell ist es unter den Wein gemischt, schnell wird der Rausch sein und ich kehre mit den Gläsern zu dem Besuch auf den Wintergarten zurück und sie sind ganz entzückt von meinem Domizil, meinem Karriereaufschwung, Nachfolger und Repräsentant zu sein. „Wirklich. Eine ganz großartige Atmosphäre hier. Und so ruhig!“. Ja, es ist ruhig. Ich hatte es fast vergessen. „Danke!“ Sie nehmen einen Schluck, ich lächle höflich, „Schmeckt es?“ Sie nicken höflich und trinken höflich und nicken wieder höflich. Ich auch. Endlich haben wir etwas gemeinsam. Ich beobachte. Unhöflich.

Dann zwei Augenpaare, die plötzlich aufgerissen werden, Körper die aufzucken, Münder, die lachen und lallen – Bewusstsein auf Sofortiges im Urlaub. Wie herrlich! Sie springen auf, schütteln ihre Körper und dann ist da gar keine Höflichkeit mehr. Mein Experiment zeigt Wirkung, keine Vorstellungen mehr, die artikuliert werden könnten, Körper ohne Bewusstsein, nur noch Körper, die zucken und lachen, Stimmbänder die aufjaulen wie Hundebabies, die glücklich nach Luft schnappen und sich mit einem Jaulen darüber freuen, wenn sie tatsächlich Luft schnappen.

Autorenzimmer, diverse Sessel, niemand drauf, keine Gläser aus denen je ein Pulver getrunken wurde, Vorstellungen, ich. Nur ich.

Nacht.

Ich arrangiere die Möbel neu. Schon wieder. Ich war nah dran. Da war der Diktator in mir. Ein ganz bisschen Diktator.

Riechen Sie das?! Riechen Sie das etwa nicht? Das andere Jahrhundert?! Sein Jahrhundert! Ein Geruch als Zeitzeuge. Ich rieche ein Jahrhundert, welches gleichzeitig mit seinem Wahn und seinem Leben zu Ende ging, ein Jahrhundert, ein Leben, die sich gemeinsam verabschiedeten. Vor 116 Jahren. Nur der Geruch ist noch da. Er ist immer noch erfahrbar. Er zwängt sich mir auf. „Natriummann, ich finde das wirklich aufdringlich von dir! Natriummann, es stinkt! Natriummann, warum antwortest du nicht?“ Er schweigt wie alle und alles hier. Es überrascht mich nicht. Nichts überrascht mich mehr. Aber er lässt seinen Geruch sprechen, permanent, ohne Unterlass. Ich kann gegen die Hausordnung und das Verbot anrauchen wie ich will, der, sein Geruch ist stärker als mein Fehlverhalten. Ein olfaktorischer Kampf, ich bin der totale Loser. Immer noch und überall in diesem Gebäude. 116 Jahre später. Sogar meine Unterwäsche riecht mittlerweile nach dem anderen, nach seinem Jahrhundert. Mir wird das langsam zu intim, ich möchte nicht mehr Geschichte sein, ich bin das, was jetzt passiert und kein Geruch einer Vergangenheit mit territorialem Anspruch. „Natriummann, ich nehme das nicht an!“ Ein Parfum was daraufhin verschwendet wird. Chanel: Pfft Pfft. „Natriummann, ich krieg’ dich! Ich mache deinem Geruch den Gar aus!“

Goldene Angelegenheiten

Ein Lichtstrahl! Ein Knirschen auf dem Kies! Ein Lichtkegel geht um das Haus spazieren! Nachts. Natürlich, sonst könnte man den Schein nicht sehen. Wer oder was ist da und wo kommt es her? Eine Taschenlampe, die stehen bleibt, mehr sehe ich nicht. Eine Taschenlampe, die mir daraufhin ins Gesicht leuchtet. Ich sehe nun gar nichts mehr. Dann doch: ein Sicherheitsbeamter. Ein anderer Mensch auf dem Museumsgrundstück. Wo warst du all die vergangenen Wochen über? „Nicht erschrecken! Drei Rundgänge die Nacht.“ Ich fasse es nicht. Ich bin nun theoretisch nicht mehr allein. Ich werde bewacht. Danke! Aber ich finde, langsam übertreibt Natriummann doch. Securitypersonal im Auftrag der Geruchskonservierung?! Das ist ganz schön dick!

Plötzlich, der nächste Morgen, auf einmal ein Knarren in den Dielen des vorvergangenen Jahrhunderts, Schritte. Wieder: ich fasse es nicht. Viele Schritte. Schwere, Leichte. Nun gehe ich tatsächlich hinab. Nicht ich als meine oder in meiner Vorstellung. Tatsächlich, so ganz ohne Vorstellung, ich, vollkommen physisch, meinen Sinnen folgend. Die Treppe hinab, Füße bewegen sich, Aktionspotentiale schnellen durch meinen Körper, ein Po, der wackelt, über das rote Samtseil am unteren Treppenabsatz hinweg, schwebend, leicht, staunend. Dann Augenpaare, die sich begegnen. Andere Augen und andere Körper, die anderen Schritten gehören. Menschen, ich verlasse die Ebene, die nicht für Besucher und werde Besucher, betrete den Kassenraum, da dann plötzlich eine Museumswärterin. Ich lächele, gehe auf die Kasse zu, gehe sehr gerne auf die Kasse zu, grüße die Wärterin und werde zurück gegrüßt, krame in der Jackentasche nach Geld, lege es auf den Tisch, nehme die Eintrittskarte entgegen, „Ja, gerne, würde ich auch einen Audioguide haben!“. Den Guide an meinen Ohren und ich betrete die gleichen Räume nicht zum ersten Mal, nicht als Objekt, sondern nun als einer von vielen und lausche der Erzählerstimme, meine Schritte hallen weiter, vermischen sich mit dem Knarren anderer, schreiben akustische Geschichte, in den Salon hinein, nicht zum ersten Mal, aber als wäre es das erste Mal. Dann weiter zum Wintergarten, vor mir ein geflochtener Korbstuhl, der Audioguide erklärt, dass er einst aus Lateinamerika von der Schwester des hier Verstorbenen importiert wurde, ein Korbstuhl mit einer dezenten Kordel zum Schutz abgesperrt, man kann sich nicht setzen, unweit davon ein Lüftungsgerät, wie es in fast jedem Museum üblich ist, es surrt leise, surrt im Takt zum Audioguide, dann weiter zur Bibliothek, hier aber nur als angedeutete Attrappe, der Rest sicher unter Verschluss, ich täusche mir selbst Überraschung vor und sehe und höre das alles wirklich zum ersten Mal, kleine Schilder mit der Aufschrift „Bitte nicht berühren!“ erinnern an den Respekt gegenüber der hier gewürdigten und hier verstorbenen Persönlichkeit und ihrem Nachlass, freundlicherweise in weitere Sprachen übersetzt, weiter, im Karree durch die vier Räume, welche mit Flügeltüren mit einander verbundene und als aufwendig gestaltete Salons und Wirkungsstätten angelegt sind. Wieder an der Kasse vorbei, lasse den Audioguide zurück, bedanke mich mit einem Lächeln oder einem Nicken, gehe auf den Haupteingang zu, der nun – auch plötzlich – geöffnet ist, ein Sonnenstrahl empfängt mich, ein Vogelzwitschern auch, ich steige die Treppe hinab, hinaus, hinaus auf das Gartentor zu, ebenfalls und nun geöffnet, trete hinaus, drehe mich nicht um, blicke nicht zurück. Nicht und nie wieder. Mein Schritt mit Schwung hinab und weg, weg über den Kies, ich knirsche, wie schon viele vor und nach mir. Ein neues Kapitel beginnt genau jetzt und hier und das was eben war, ist niemals geschehen.

Wie kommen Sie darauf?!


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