Von Evy Schubert | Uraufführung 2016 | Ballhaus Ost


FIGUREN

Ein Pianist
Ein Kapitän
Ein Arzt
Ein Freudenmädchen

1. HE, DU, MIT DEM GESICHT DA!

Pianist
He, du! Mit dem Gesicht da!

Kapitän
Ja.

Pianist
Von wo kommst du?

Kapitän
Ostend.

Pianist
Ist das nicht ein bisschen weit?

Kapitän
Nein. Ja.

Pianist
Was machst du hier?

Kapitän
Pause.

Pianist
Ach so.

Pause.

Pianist
He, du! Mit dem Gesicht da!

Kapitän
Ja.

Pianist
Wovon machst du Pause?

Kapitän
Vom Sehen.

Pianist
Ach so.

Pause.

Pianist
He, du! Mit dem Gesicht da!

Kapitän
Ja.

Pianist
Wo willst du hin?

Kapitän
Nach Westend.

Pianist
Das hier ist Westend.

Kapitän
Ach so.

Freudenmädchen (tritt auf)
Wo sind wir?

Pianist
In Westend.

Kapitän
Ostanfang.

Freudenmädchen
Ach so.

Pianist
Ein Ort für Liebesschwüre.

Kapitän
Ein Ort für Trennungen.

Freudenmädchen
Ein Ort, um vergessen zu werden.

Pianist
Rüschenvorhänge flattern im Wind! Vergilbtes Weiß erzählt Patina, verknüpft Vergangenheit mit Gegenwärtigem!

Arzt (tritt auf)
Wo sind wir?

Pianist
In Westend.

Kapitän
Ostanfang.

Freudenmädchen
Beim Abschied.

Arzt
Ach so.

Pause.

Pianist
He, du! Mit dem Gesicht da!

Kapitän
Ja.

Pianist
Was machst du jetzt, wenn du schon da bist, wo du hin willst?

Kapitän
Ich weiß nicht.

Alle
Ach so.

Pause.

Pianist
Ein Porsche von links.

Arzt
Platte Kapitalismuskritik.

Pianist
Begleitend: Fäkalmusik.

Freudenmädchen
Westend!

Pianist
Ein Hupen im Tunnel.

Kapitän
Das akustische Volumen in der Nacht beweist: Limitierung des Untergrunds.

Freudenmädchen
Der Morgen gehört der Müllabfuhr.

Pianist
Was sie hinterlässt:

Arzt
Eine stinkende Böe im heißen Wind.

Pianist
Vis-à-vis: ein Mann in Handschellen, wird abgeführt.

Freudenmädchen, Arzt
Warum?

Pianist
Aus Angst.
Freudenmädchen, Arzt
Ach so.

Pause.

Pianist
He, du, mit dem Gesicht da!

Kapitän
Ja.

Pianist
Wieso stellst du eigentlich nie Fragen?

Kapitän
Hast du schon mal einen Toten geküsst?

Pianist
Nein.

Kapitän
Siehst du!?

Pause.

Pianist
He, du, ohne Gesicht da!

Arzt
Ja.

Pianist
Wo willst du hin?

Arzt
Nach Westend.

Pianist
Das hier ist Westend.

Arzt
Ach ja.

Pause.

Freudenmädchen
Vielleicht wird es schöner, wenn wir hier weggehen?

Pianist
Wohin?

Freudenmädchen
Weiß nicht.

Pause.

Kapitän
Nach meinem Tod werde ich eine Stute sein.

Pianist
Warum?

Kapitän
Die Mähne flattert im Wind.

Alle
Ach so.

Pause.

Pianist
He, du, ohne Gesicht da.

Arzt
Ja.

Pianist
Was machst du jetzt, wenn du schon da bist, wo du hin willst?

Arzt
Reden.

Alle
Aha.

2. DAS SUPPENHUHN IST IMMER DER TÄTER

Arzt
Das Suppenhuhn ist immer der Täter!
Wohl bemerkt, man mag sagen – und diese Kurzsichtigkeit sei dem schnellen Betrachter gestattet, da sie doch als nahe liegender Schluss in seiner Wirkung zunächst zu ziehen sein muss und eine weiterführende Betrachtung und Reflektion, kurzum Analyse, dem schnellen Betrachter nicht vergönnt ist – man würde in dem Suppenhuhn ein Paradebeispiel – Exempel Paradicum – des Opferbegriffes finden können, eine Tatsache, die nur bestehen kann, da die Tatsache selbst das eigentliche Opfer der Betrachtung ist, kurz um die sogenannte Perception ad absurdicum. Es ist folglich nur die Suppenhuhnrezeption, die durch ihre Bedeutungsdimension zum Opfer wird, folglich den Opferstatus erhält – der nicht gleichzusetzen ist mit einem implizierten Opferkult, geschweige denn sonst irgendeiner sich anschließenden oder gar vorausgehenden Form der Verehrung, Hingabe oder weiterführenden ritualisierenden Handlungen, nein, hierbei handelt es sich ausschließlich um den Moment des Aktes der Opferwerdung durch mangelnde und kurzsichtige Rezeption der, wenn diese schnelle Bezeichnung gestattet sein mag, oberflächlichen Betrachtung.

Pianist
Er redet wirklich.

Kapitän
Er redet.

Freudenmädchen
Wirklich.

Kapitän
Also gut. Reden wir.

Arzt
Das Suppenhuhn selbst, als physiologischer Gegenstand betrachtet mit der Voraussetzung des allgemeinen Wissens, dass es sich bei dem Suppenhuhn nur um einen Bestandteil eines einstigen Lebewesens handelt, das aber durch den toten Fortbestand einen neuen Lebenssinn entwickelt hat, kurz um in ein neues Dasein hinüber geschritten ist, um – der allgemeinen Annahme zum Trotz und für den verblüffenden Akt der Widerlegung – sich als Täter zu entpuppen.
Selbstverständlich einen toten Täter, denn eine willentliche Handlung einem Restlebewesen zu zuschreiben, vermag die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt, kurz um so weit sind wir nun doch noch nicht vorgedrungen, noch nicht vollziehen, so dass wir just in diesem Moment von einem postmortalen, unbewussten, passiv-aktiven Tatvorgang ausgehen müssen.

Pianist
Vögel, die verlernt haben zu fliegen…

Kapitän
…stinken.

Arzt (zum Freudenmädchen)
Und Sie, sind Sie Suppenhuhn oder Hühnchen?

Freudenmädchen
Suppenhuhn?

Kapitän
Oder Hühnchen!

Arzt
Sie sind ein Suppenhuhn!

3. DIE STIMME UND DER LÖWE MIT SEX (SEXPRAKTIKEN)

Freudenmädchen
Nun weiß ich, an wen Sie mich erinnern!
Ganz bestimmt!
Vor einigen Jahren, an einer übernächsten Ecke, sprach mich ein gut situierter Mann an, ganz so wie Sie, sicher ein Bankier, nein, wohl eher ein Akademiker oder Arzt vielleicht… ganz bestimmt, es war ein Arzt und dieser Herr fragte mich, ob ich denn auch für die König der Löwen Stellung zu haben sei.
Ich muss gestehen – ich war damals noch nicht in sämtliche Abzweigungen meines Metiers vorgedrungen – ich bestätigte ohne zu wissen, was bei dieser gefragten Stellung verlangt werden und folglich geschehen würde.

Pianist
Ein Metzger, der zum Schlachten einen Handschuh im Leopardenmuster getragen hat.

Kapitän
Und wo war die Handschuhhand vorher?

Pianist
Im Po.

Kapitän
Wie die Fliegen.

Freudenmädchen
Unterbrechen Sie mich jetzt nicht!
Wenn ich einmal rede, da muss die Stimme dann raus, verstehen Sie das? Denn, wenn man die eigene Stimme nicht mehr hört, und meine Kunden, die wollen ja nur einen Klang, ein Hauchen, nur die Referenz einer gewissen Stimmlichkeit, aber doch keine Worte!
Und ich rede nun auch sehr gern und dann steigt die Stimme, die ja eine verklumpte Kugel, ganz tief in mir drinnen ist, langsam empor, kämpft sich den schlanken Hals, denn den habe ich ja nun, und an meinem Hals sieht man doch „Diese Person, die hatte einst Würde“, und dann dringt die Stimmenkugel in den Mund und hustet sich in ersten leisen Tönen und Silben hervor und man hört sie ja selbst kaum, aber die Gedanken sind so viel schneller, jetzt muss die Stimme sich beeilen, denn haben die Gedanken sie erst einmal überholt, da rutscht die Stimmenkugel, diese Schwarze, wieder ganz schnell in die Tiefe hinab und all die Worte, die doch da auch mal rauswollen, die werden dann wieder nur gedacht und verschluckt und niemand hört sie dann – und ich habe doch auch etwas zu sagen! Nicht nur zu stöhnen!

Pianist
Reden wir?

Kapitän
Schwatzen wir!
Freudenmädchen
Stimme oder stumme Hölle!

Pianist
Reden, um vorhanden zu sein. Reden, um überhaupt zu sein.

Kapitän
Schwatzen.

Freudenmädchen
Und dann kommt der seltene Moment und die Kanonenkugel, diese schwarze Schwere, die schafft es und siegt und kommt aus dem Mund heraus geschossen und sobald sie diesen verlässt, da löst sich das Schrot in tausend bunte Mosaiksteinchen auf, die durch die Lüfte schweben und sich eiligst in Worte zusammenfügen und in Sätzen arrangieren, ja bloß um Teleprompter zu werden und die Gedanken haben verloren, denn sie waren nicht schnell genug, dieses Mal nicht, nein und dann wird der Teleprompter zum Gedanken und ich, die über meine Gedanken triumphiere, verbalisiere den Teleprompter, der fern der Gedanken liegt und die Befreiung des Herzens, der wahren Worte feiert und dann rede ich!

Dann rede ich, wie es kein Mensch je erwartet hätte und dann staunen all die Kunden und dann bekommen sie Angst, weil sie lieber ein Stöhnen wollen, aber heute nicht!

Heute rede ich!

CHORALI INTERRUPTI

Plötzlich setzen alle zu einem kurzen ‚Chorali Interrupti‘ an und setzen dafür einen Schritt vor:

Alle (chorisch, musikalischer Singsang)
Oh, sie redet.
Sie redet!
Oh, wie sie redet!
Sie redet!

Alle setzen wieder einen Schritt zurück.

Freudenmädchen
Wie schön sind diese Worte und Sätze, die da jetzt aus mir herauskommen!
Heute ist der Tag, an dem ich gegen die schwarze Kanonenkugel siege und mit dem Teleprompter tanze!

Und ich nahm diesen Herren mit, auf mein kleines Kämmerchen, wo schon so viele Herren lagen, um sich in vorgetäuschter Lust zu ertränken und als der Akt fast vollzogen war, da ejakulierte er in seine Hand, richtete sich auf die Knie und schmierte sich das Erzeugnis seiner männlichen Natur auf die Stirn!

Der Arzt schaut peinlich berührt, langsam wird ihm doch etwas beklemmend zumute.

Ja, ganz richtig, auf die Stirn!

Er brummte laut auf, fauchte wild und brüllte mit tiefer Stimme:
„Heute, heute bin ich Simba! Simba, der Löwenkönig! Ah Wroar Wraaauuu“, um daraufhin auf allen Vieren durch das Zimmer zu stolzieren!

CHORALI INTERRUPTI

Alle (chorisch, musikalischer Singsang)
War er noch Mensch?

Freudenmädchen
(vehement) Nein!
Und er stolzierte und brüllte und warf die Mähne zurück und all die ordentlich gekämmten und gegelten Haare, ja wie waren sie zuvor fein säuberlich zu einem adretten Seitenscheitel angeordnet, die flogen nun umher und er bäumte sich auf, ließ die Tatzen auf den Boden aufschlagen und aufplatschen und auch seine Schultern warf er schwer vor und zurück, und dann schritt er in die eine Ecke des Zimmers, da wo der Waschkübel steht – eben der Waschkübel an dem ich vor dem Akt meine kurzen Bekanntschaften zu reinigen pflege, denn auf längerfristige Begegnungen lasse ich mich nicht ein, das ist nichts für mich, da wird man nur enttäuscht und Sie sehen ja, wie ich jetzt schon mit meiner Stimme, den Gedanken und dem Teleprompter zu kämpfen habe, da ist für weitere emotionale Anstrengungen nun auch gar keine Kraft mehr da, das verstehen Sie doch, oder?
Ich begann, mich herzurichten, ein schneller Blick auf den Wecker, die regulären 45 Minuten lagen schon in ihren letzten Sekunden, da schnellte dieser Löwenmensch auf seinen vier Beinen auf das Bett zu, sprang an diesem empor, um dabei wieder gefährlich zu fauchen und zu brüllen und die Mähne flatterte nur so und dann schrie er, mit der voluminösesten Stimme, die ich je vernommen hatte – Teleprompter hin oder her, was würde ich geben, würde ich nur einmal eine solche Stimmlichkeit entfalten können, oh, wie glücklich wäre ich da, können Sie das verstehen? – Und er schrie: „Heute bin ich Simba! Ahhhh Wrrroarrrr! König der Löwen! Ah Rrrr“ und er flog mir in den Arm, biss mir noch in den Hals, aber seine Manneskraft war zu viel für meinen zarten Körper und ich stürzte vom Bett herunter, gegen den Nachttisch direkt an die Wand, blieb dabei kurz an der Lampe hängen, riss diese mit mir hinab in die Tiefen des alten Dielenbodens und eine traurige Bewusstlosigkeit befiel mich.

Als ich Stunden später erwachte, die Lampe knisterte einen Kurzschluss, da sah ich mich um, ängstlich, nach Realität und Wahrheit suchend:

Mein bescheidenes Stundenkämmerchen war verwüstet!
Nur ich, war noch da.
Behindert und stimmlos. Verstümmelt und verwildert.
Um einen Arbeitstag betrogen!
Und da wünschte ich mir den Teleprompter herbei! Aber ganz geschwind, mit all meiner restlichen Macht und derangierten Würde wünschte ich ihn mir, aber auf Sofortiges, herbei, und der Teleprompter, der würde dann einen sofortigen Totempfahl für Löwenfanatiker errichten lassen oder zumindest dafür plädieren! Oh ja, das war mir doch auch der Teleprompter schuldig!

Alle
Der Teleprompter kam nicht.

Freudenmädchen
Wieder steckte diese Kanonenkugel in meinem Hals und ich war wütend, das können Sie mir glauben! Der Tag wird kommen, da werde ich nicht mehr stimmlos sein, nein, ich habe meine Rechte, und an diesem Totempfahl, ja, da werden dann alle Löwendarsteller und Löwenfetischisten und Faschisten festgebunden und zu Tode ejakuliert werden! Da wird die Welt frei sein! Da wird man Mensch sein!

Sie schaut den Arzt an und erschrickt:

Sind Sie Simba? 
Sie sind Simba!
Sie sind der Löwenkönig!
Dieser selbst Ernannte!
 Oh, Sie Tier!

(manisch) Oh je, ich bin jetzt ganz erschöpft.
Jetzt muss ich kämpfen.
Nein, nein, nein!

Jetzt fliegen diese bunten Mosaiksteinchen wieder zusammen – nein, das lasse ich nicht zu, nicht jetzt – sie formieren sich als Kugel, zu dieser schrecklichen Kanonenkugel, die mir gleich in den Mund, die Stimmbänder kaputtreißend, die Luftröhre hinab schießen wird, nur um mich verstummen zu lassen.

Das lass’ ich nicht zu, nicht jetzt wo ich diesen Menschenschänder vor mir habe!

Totem!
Herbei!
Teleprompter!

CHORALI INTERRUPTI
Alle lesen im Singsang den „verschollenen Teleprompter“ ab:

Alle (im chorischen Singsang)

Die Worte!
Wo sind die Worte?
Die Worte!
Ja, wo sind die Worte?

Freudenmädchen (manisch)
Zu Hülfe!
Da sind doch noch Worte in mir!
Oh, wie gemein!
Sie!

Das Freudenmädchen verliert die Stimme und schnurrt noch einmal kurz wie ein Löwenbaby auf.

4. ANALYSE DER PSYCHOBIOLOGISCHEN TELEPROMPTERMECHANIK

Arzt (analysiert)
Chronologische Angst!
Ganz offensichtlich hat hier eine gravierende Unterbrechung in der venösen Zufuhr stattgefunden, deren Resultat, also bekanntlich als Ursache-Wirkungs-Prozess bezeichnet, unwiderruflich in der Phantasiererei und Projektion des Gedachten als Realgeglaubten und daher Angenommenen, gipfelt, um post exessum in der totalen Erschöpfung zu kulminieren, deren Fortgang von einem kurzen Ruhezustand gekennzeichnet ist und der sanft in eine Gleichgültigkeit hinüber gleiten tut, deren Verknüpfung zum Kurzzeitgedächtnis dadurch automatisch gekappt werden wird, womit jegliche und etwaige Simbas straffrei bleiben können und werden, da das Fräulein selbst, sich ihrer als wahr angenommenen, aber tatsächlich fragwürdigen Erfahrung, durch ihre höchst eigene pathologische Schicksalhaftigkeit als Zeugin nun hiermit offensichtlich vollends entledigt hat.

Denn wie kann jemand in einem Strafverfahren Zeugnis ablegen, ja ein solches Verfahren überhaupt einleiten, der sich an eine und die etwaige Tat so gar nicht erinnert?!

Für eine Klage braucht es zunächst einmal einen Grund und einen Tatvorgang!

Pianist
Er redet wirklich.

Kapitän
Er schwatzt.

Pianist
Am Anfang übertreibt man immer.

Kapitän
Dann irgendwann Ehrlichkeit, die schockiert.

Pianist (zum Arzt)
He, du ohne Gesicht da!

Arzt
Ja.

Pianist
Was ist deine Methode?

Arzt
Die kosmetischen Vorgänge einer vergessenen Vergangenheit.

Pianist
Warum?

Arzt
Weil alles eitel war.

Pianist
Ganz so wie du?!

Kapitän
Vergessene Vergangenheiten. Realität als komischer Moment oder Möglichkeit. Opfer von Verbegrifflichungen. Anarchie von Macht. Mechanik ohne Psychologie, Worte ohne Sinn, die Assoziation als Fahne im Wind. Kalkutta, Verladestation, Rausch und von Dekadenz keine Spur. Was bleibt, die raue Poesie der Betrachtung, im Zwielicht ein Tanz, ein fröhlicher Versuch des Haltenwollens. Ich stelle mir vor, das Steuerrad wäre verschwunden, für immer Kalkutta. Oder, ich stelle mir vor, ich wäre niemals nach Kalkutta ausgelaufen, die Zeit nach dem Suezkanal, bevor dieser blockiert wurde, also damals oder damals.
Oder – warum ausgerechnet Kalkutta?! Er haut auf den Tisch, was er nicht sieht, das Tischbein, schon angebrochen, eine Flasche, die ihm daraufhin ins Gesicht fliegt und dann nur einer, der nicht lacht. Wer war er? Ich kenne diesen ihn nicht. Er ist nur eine Vorstellung. Dann sie, sie geht auf ihn zu, einen anderen ihn, auch nicht in Kalkutta, und nimmt ihm das Toupet vom Kopf, legt es sich ins Dekolletee und sagt „Herren aller Länder, vereinigt euch!“.
Komisch, oder?

5. DIE ZENSUR IST EINE ANDERE BEHÖRDE

Pianist
Ich urteile nicht, ich gewähre…
Die Zensur ist eine andere Behörde – sie ist Nicht-Ich.
Ich gebe einen Raum und da wo ich bin, ist niemand.
Mein Raum – ist das, ist mein Nicht-Ich.
Kapitän
Ohne Raum, wenn der Hintergrund zum Vordergrund wird und oder andersrum, Ersteigen der Gefilde oder plötzlich, der Kaventsmann und sie rufen schon ‚Mann über Bord‘, denn die See kennt keinen Gott, einmal wird sie dich schlucken, dann. Keine Vereinigung. Oder gerade: Vereinigung! Und dann ist es geschehen und du wirst keine Zeit haben, noch mehr irgendwas zu zensieren.

Endlich ein Wind!

Pianist
Vielleicht Regen.

Kapitän
Vielleicht in Kalkutta.

Pianist
Vielleicht nicht.

Kapitän
Vielleicht doch und dann: Geruch von Diesel. Romantik von Dreck, Romantik durch Assoziation. Vermenschlichung von allem, ein Puls der steigt beim Anblick von Unbekanntem.
Dann er, und der Puls fällt drastisch.
Dann wieder nicht, als er das Messer nimmt, und sie, die das beobachtet, aber er sieht sie nicht und er führt das Messer… wohin eigentlich?
Heute keinen Krimi!
Also, er nimmt das Messer, sie hat Angst, er wirft es in die Luft, Spannung, sie schreit, er sieht sie nicht, er möchte jonglieren, eine Banane, ein Seil dazu, Dreierlei zum Vergnügen am Kai, warum auch nicht, dann, er hört ihren Schrei, verzerrt, er wird abgelenkt, das Messer, es landet in seinem Hals, er ist sofort tot, die Polizei nicht vor Ort.

Pianist
Doch ein Krimi.

Kapitän
Hat sie gemordet? Sie flieht, niemand hat sie je gesehen.
Ich habe sie mir ausgedacht.
Warum auch nicht?

6. ARBEIT

Arzt (zum Kapitän)
Sind Sie Seefahrer?

Kapitän
Ich bin Anwalt.

Arzt
Ein spezielles Gebiet?

Kapitän
Nein. Ich bin Versicherungsvertreter.

Arzt
Für Lebensversicherungen?

Kapitän
Nein, Sterbeversicherungen.

Arzt
So etwas gibt es?

Kapitän
Nein. Ich bin Blindenführer.

Arzt
Wie interessant. Wie kamen Sie dazu?

Kapitän
Gar nicht.

Arzt
Aha. Es zahlt sich also nicht aus?!

Kapitän
Nein. Ich arbeite im Baugewerbe.

Arzt
Was bauen Sie denn?

Kapitän
Pyramiden.

Arzt
Heutzutage?

Kapitän
Nein.

Arzt
Sind Sie ehrlich?

Kapitän
Jetzt gerade?

Arzt
Ja.

Kapitän
Nein.

Arzt
Ach so.

Kapitän
Und Sie, was machen Sie?

Arzt
Konversation.

7. NACKT

Pianist (zum Kapitän)
Wollten wir nicht reden?

Kapitän
Also gut, reden wir.

Pause.
Pianist (zum Kapitän)
Wieso ziehst du dich nicht aus?

Kapitän
Warum sollte ich das tun?

Pianist
Dann hätten wir eine andere Situation.

Kapitän
Dann würdest du mich anschauen und vergleichen.

Pianist
Ja.

Kapitän
Ich wäre dann nackt und du nicht.

Pianist
Genau.

Kapitän
Das möchte ich nicht.

Pianist
Schade.

8. LIEBE

Freudenmädchen (erwacht, klar und schnell)
Ich bin ein Suppenhuhn!

Arzt
Aha!

Freudenmädchen
Und wer sind Sie? Kennen wir uns denn? Immerhin haben Sie hier gerade Ihren Arm um mich gelegt.

Arzt
Gestatten Sie, ich bin Arzt, ich hatte mich Ihrer angenommen, da Sie in eine kleine ohnmächtige Umnachtung zu fallen drohten, deren Ausgang, das ist ja allgemein bekannt, auch zu allerlei Stürzen und Folgeschäden führen kann oder könnte und geradewegs, um dies zu verhindern und da war ich, wie es nun mal meiner Professionalität dazugehörig ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Bitte, vielleicht würden Sie mir zunächst einmal erklären, wie Sie dazu kommen, sich selbst als Suppenhuhn zu bezeichnen?

Freudenmädchen
Da ist kein Gedanke in mir. Ausgelutscht und ausgesogen, ganz geschmacklos eben. Und bei den Suppenhühnern, also den ausgekochten Suppenhühnern, nicht den frischen, verhält es sich doch recht ähnlich.

Der Arzt lächelt triumphierend. Seine These geht auf, das Freudenmädchen kann sich an ihren vorherigen Telepromptermonolog, Simba und ihren Zusammenbruch nicht mehr erinnern.

Arzt
Da haben Sie sicher Recht!

Freudenmädchen
Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor…

Arzt (ablenkend)
Erzählen Sie mir doch mehr von Ihnen. Ich bin ganz Ohr und finde immer mehr Gefallen an Ihnen!

Freudenmädchen
Warum haben Sie denn Interesse an einem Suppenhuhn?
Einem Ausgekochten noch dazu?

Arzt
Nun, hinter jedem Suppenhuhn verbirgt sich doch eine ehemalige Kraft!
Vertrauen Sie mir, als Mensch, als frische Bekanntschaft und wenn Ihnen das noch nicht reicht, beziehen Sie sich in Ihrem nun baldmöglichst zu schließenden Vertrauen doch ruhig auf meine ehrwürdige Professionalität! Nicht umsonst habe ich wohl den Singsang bereits vernommen, der doch gerne im großen Kreise von mir verlautbaren lässt, ich sei der Arzt, dem die Frauen vertrauen!

Freudenmädchen
Ich bin ein Suppenhuhn!

Arzt
Sind Sie denn glücklich?

Freudenmädchen
Ich kann mich nicht entsinnen, je gelernt zu haben, was Glück ist.

Arzt
Da haben Sie die beste Voraussetzung! Wie wunderbar! Sie befinden sich am Gegenpol! Das ist der erste Schritt!

Freudenmädchen
Meinen Sie?

(euphorisch) Ja, sollte mir das Glück doch eines Tages, heute, hier und jetzt, wirklich noch begegnen? Sollte ich wirklich so reich werden und von dieser mir unbekannten paradiesischen Frucht kosten?

(aufgeregt) Wie bereitet man sich vor?

Wird nicht der tiefe Fall sich anschließen und noch schwerer wiegen, als all das, was mich ohnehin umgibt und seit jeher umgeben hat?

Arzt
Zweifeln Sie nicht! Lachen Sie einmal!
Oh, Ihr Puls tanzt geradezu! Sehen Sie, zu was Sie fähig sind?!

Freudenmädchen
Sollte das das Glück sein? Schmeckt es so, wie der Puls tanzt? Wann wird es wieder aufhören?

Arzt
Sagen Sie, sind Sie zufälligerweise mit der König-der-Löwen-Stellung vertraut?

Freudenmädchen
Nein, davon habe ich noch nie gehört. Was hat es damit auf sich? Ist es aufregend?

Arzt (triumphierend)
Gewiss, gewiss!

9. DAS LANGE JETZT (LIED)

Pianist (singt)
Vor langer, mancher Zeit
in einem Separée,
waren die Flügel noch entzweit
mais ça – c’est bien passé.

Ein Saal voller Gehirne,
und der Äther der da ruft,
Wer war Garibaldi?
War’s der, der all dies schuf?

Fortschritt. Fortschritt. Schritt.
Die Zukunft ist längst hier.
Der Erdengrund bloß Substitut,
ein Lachen – schenk’ ich dir!

Um die Ecke rauchen,
das ist das lange Jetzt,
wer wird bei all dem fauchen?
Bloß der, der da so hetzt!

Entzweit vereint, gefreit erscheint,
im Sprung, was bleibt?

(gesprochen) Ein Grinsen mit Zahnschmerz,
(in der) Patina des Vorhangs:

– der Reichsadler.

Ein dampfendes Suppenhuhn fällt von der Decke.

10. BEGREIFEN NUR DURCH HAPTIK/ IM FALL DER FÄLLE

Kapitän
Ein Grinsen das überzeugen soll. Ein Grinsen, das am Abend schmerzen wird: Die Lepragasse in Bukarest, alle stellen ihre Beine zur Schau, für ein paar Münzen der Hoffnung.
Da war ich nicht mit dem Schiff.
Ich war überhaupt nie in Bukarest.
Und er mit dem Sprachfehler, er stotterte mit geschwollener Zunge, wie er eine Geschichte erzählte und ich hörte zu.
Ich hörte nichts.
Zähne wurden aufeinander gepresst, dann deutlich: ein Knirschen.
Meinerseits: ein Nicken.
Oder: Höflichkeit.

Arzt
Oder: Höflichkeit, die ausbleibt. Menschen, die immer alles und jeden anfassen müssen, Menschen, deren Ratio eine komplett Körperliche ist. Und wenn es zu komplex ist, müssen diese Haptiker, so der allgemeine Jargon, mit dem Finger noch mal auf die entsprechende Oberfläche nachklopfen, in der Hoffnung der Klang oder die Taktilität des jeweiligen Gegenstandes würde durch das zugrunde liegende Volumen, einen endgültigen Rückschluss geben, der für die weitere Orientierung zweckdienlich sei. Aber die Zufriedenheit ist nur von kurzer Dauer.

Kapitän
Verrutschte Hierarchie der Sinne, Angst vor dem, was man nicht gewohnt ist.
Stellen Sie sich vor, er geht, um sie zu suchen, aber er kennt sie noch nicht und sie, sie sucht ihn gar nicht. Und er, er weiß nicht, wen er sucht, aber er sucht. Dann trifft er sie, in einem Fachgeschäft für Angelhaken. Weder sie noch er angelt oder hat jemals geangelt – warum auch?! – warum also hat sie den Laden betreten? Vielleicht hatte sie sich vor ihrem ehemaligen Vormund, den sie zufällig in einer Masse entdeckt hatte und der sie einst geschlagen hat, mindestens ein blaues Auge, versteckt, um ihn dann doch durch die ausgestopften Dekofische hindurch zu beobachten und nur zum Zeitvertreib den einen oder anderen Angelhaken in die Hand zu nehmen, immerhin hat sie ein Geschäft betreten, warum also soll sie sich nicht eingehender mit dem Warenangebot befassen? Sofort: Mordphantasien, ein Angelhaken, um die verpasste Kindheit nachwirkend und doch endlich wieder gut zu machen. Vielleicht aber, ist sie auch gar nicht vor ihrem Vormund geflohen, den sie gar nicht hatte und daher auch nicht posthum erledigen könnte. Vielleicht ist sie Innenausstatterin und wollte lediglich die Schaufenster von innen betrachten, ein ganz professioneller Zeitvertrieb also, das, was man in einer fremden Stadt so macht, bevor man zu seinem nächsten Termin geht. Vielleicht auch das nicht, aber sie ist in diesem Laden und dann tritt er ein. Auch er hat kein sportliches Motiv, warum auch? Ihm fällt kein einziger Grund ein, sich in Einsamkeit an einem Gewässer zu versinken und einem glitschigen Wesen seine Existenz zu berauben. Die beiden sehen sich an, ihre etwaigen Mordphantasien verflüchtigen sich sofort und bei ihm freuen wir uns, dass wir sein Motiv gar nicht erst erörtert haben, da wir dieses ja nun überhaupt nicht benötigen. Sie nehmen sich bei der Hand und verlassen das Geschäft, einziger Augenzeuge: der Verkäufer, der nebenbei unter dem Pseudonym „A Punkt Leichtfinger“ Liebesromane veröffentlicht und dankbar über den Stoff, der sich da so vor seinen Augen eröffnet, lächelt und sein neuer Roman wird beginnen: Eine Frau betritt ohne Grund ein Fachgeschäft für Angelhaken, kurz darauf ein Mann, der sich ähnlich verwirrt wie sie umblickt und nicht weiß, was ihn in diesen Laden geführt hat, die beiden sehen sich an, sie kennen sich nicht, aber fühlen die Bestimmung, sie nehmen sich bei der Hand und schreiten über die Schwelle hinein ins ewige Glück. Ein Groschen das Ganze.
Oder so ähnlich.

Arzt
Die Angel als Phallus. Ein Groschen im Verhältnis zur Wissenschaft und die Erörterung bleibt aus, somit lediglich ein Angebot der Erhebung, das sich im nächsten Fall auch als Einfall oder Angebot der Fallhöhe, wenn man es explizit als Fallstudie betrachtet oder betrachten würde, in jedem Fall entpuppt bzw. entpuppen könnte. Fälschlicherweise könnte auch der Fall eintreten, sofern man den Fall eines gefallenen Pornodarstellers als Fallbeispiel wählen würde, bei dem jedenfalls der unglückliche Fall eintritt, stets ein Fallender zu sein, da er sich beim wiederholten ‚Und bitte‘ nicht mit der Erhebung, sondern mit der, seine Professionalität auf Sofortiges zum Fall bringenden, Erschlaffung konfrontiert sieht, natürlich nur gesetzt den Fall, er ist in eine Stimulierungsfalle geraten, die Schuldfrage aber dann, folglich keinesfalls oder nicht ausschließlich ihm zuzuschreiben.
In Ihrem Fall jedoch entlarven sich die Geschichten als Fallobst, etwas faul und doch irgendwie bekömmlich.

11. IM VEREIN(SHAUS)

Pianist
Wer sind Sie?

Arzt
Ich?

Pianist
Ja.

Arzt
Ich bin Baumfäller.

Pianist
Seit wann?

Arzt
Eben gerade.

Pianist
Ach ja?!

Arzt
Und Sie?

Pianist
Ich auch.

Arzt
Sie auch?

Pianist
Warum auch nicht?

Arzt
Ja, warum auch nicht.

Pianist (zum Kapitän)
Und du?

Kapitän
Ich?

Pianist
Ja.

Kapitän
Ich bin Baumfäller.

Pianist
Du auch?

Kapitän
Warum nicht?!

Pianist
Seit wann?

Kapitän
Eben gerade.

Freudenmädchen
Ich auch.

Kapitän, Arzt, Pianist
Sie auch?

Freudenmädchen
Selbstverständlich.

Kapitän, Arzt, Pianist
Seit wann?

Freudenmädchen
Eben gerade.

Alle
Warum auch nicht?!

Pianist
Ein Verein: plötzlich gegründet.

Freudenmädchen
Was für ein Verein?

Pianist
Unser Verein.

Kapitän
Ein Verein ohne Anlass.

Arzt
Ein Verein für Baumfäller.

Kapitän
Wo ist das Statut?

Pianist
Wo: unsere Hymne?

Arzt
Das Register?

Freudenmädchen
Die Abzeichen?

Kapitän
Am Ende ein Traum: nicht im Statut aufgenommen.
– Aber wir sind in keinem Verein. Wir sind auch nicht in Kalkutta.

Pianist
Wir haben also Glück.

Kapitän
Das Kollektiv bleibt aus.

Pianist
Keine Vereinigung!

Freudenmädchen
Wo sind wir dann?

Kapitän
In Westend.

Freudenmädchen
Ach ja.

Arzt (zum Kapitän)
Was machen Sie hier?
Kapitän
Wo?

Arzt
In Westend.

Kapitän
Reden.

Arzt
Warum?

Kapitän
Um vorhanden zu sein.

Freudenmädchen
Ich denke dich,
du denkst mich.
Ich bin ich,
auch ohne dich.

Jeden Tag
der gleich Fleck.
Ich und ich
am Straßeneck.

Kapitän
Im Wattenmeer,
die Gischt noch fern,
Gezeiten ruhig,
ich hab mich gern.

Pianist
Und Westend bleibt,
was keiner kennt.

Arzt (zum Freudenmädchen)
Wer bist du?

Freudenmädchen
Ich bin das, was du nicht siehst.

Arzt
Temporäre Worte.

Kapitän
Sie ist ein, ist ihr Gedanke.

Pianist
Jetzt.

Kapitän
Gleich nicht mehr.

Pianist
Dann ist sie anders.

Freudenmädchen
Dann bin ich anders.

Kapitän
Aus anderen Worten.

Freudenmädchen
Ist wahr, was war oder was nicht war?

Pianist
Ich bin hier.
Jetzt.
Aber es ist nicht wahr.
Ich bin nicht hier.
Ich bin anderswo.
Gleich.

Kapitän
Du bist genau hier.

Pianist
Ich bin nicht anderswo.

Kapitän
Du bist ja auch hier.

Pianist
Irgendwann ist es weniger wahr, dass ich hier bin.

Kapitän
Dass du hier bist.

Freudenmädchen
Dass wir hier sind.

Pianist
Tatsächlich hier sind.

12. DER VORMUND

Kapitän (zum Freudenmädchen)
Warum hast du ihn nicht mit dem Angelhaken ermordet?

Freudenmädchen
Wen?

Kapitän
Deinen Vormund.

Freudenmädchen
Ich habe keinen Vormund.

Kapitän
Vorhin hattest du schon einen Vormund.

Freudenmädchen
Ich hatte nie einen Vormund.

Kapitän
Wenn du nun aber einen Vormund gehabt hättest oder haben würdest, würdest du ihn dann mit einem Angelhaken umbringen?

Freudenmädchen
Ganz sicher würde ich ihn mit einem Angelhaken umbringen.

Kapitän
Warum ausgerechnet mit einem Angelhaken?

Freudenmädchen
Warum sollte ich jemanden mit einem Angelhaken umbringen?

Kapitän
Magst du keine Begräbnisse?

Freudenmädchen
Nein, die Toten weinen nicht.

Kapitän
Ich gehe gerne auf Begräbnisse. Dort wird nicht gesprochen. Keine Worte, die niemanden mehr erreichen können.
Vielleicht solltest du noch mal mit deinem Vormund reden.

Freudenmädchen
Ich habe keinen Vormund.

Kapitän
Warum nicht?

Freudenmädchen
Ich brauche keinen Vormund.

Kapitän
Das ist schade.

Freudenmädchen
Ich möchte keinen Vormund! Damals nicht und heute immer noch nicht. Jetzt erst recht nicht. Ich habe auch keinen Angelhaken. Das Morden ist mir sowieso fremd. Ich kann mich nicht entsinnen, mir je einen Tod, noch nicht einmal den eigenen, gewünscht zu haben. Ausgenommen, vielleicht eines Tages: auf Löwenjagd. Die Flinte und ich! Das wäre etwas anderes. Das wäre etwas Heroisches! Ein Tier zum Ausstopfen. Eine Jagd für die Erinnerung. Für die Ewigkeit. Und dann sitzen wir uns im Wohnzimmer gegenüber. Der ausgestopfte Löwe und ich. Und dann erinnere ich mich tagtäglich aufs Neuste: Ich habe eine Heldentat vollbracht.

Kapitän
Wie wäre es mit einem ausgestopften Vormund?

Freudenmädchen
Ich brauche keinen Vormund.

Kapitän
Das ist bedauerlich.

Freudenmädchen
Auch keinen Ausgestopften!

Kapitän
Schade, dass du keinen Vormund hast oder haben möchtest.

Freudenmädchen
Wofür brauche ich einen Vormund?

Kapitän
Wenn du einen Vormund hättest, könnte ich bei ihm um deine Hand anhalten.

Freudenmädchen
Warum möchtest du bei ihm um meine Hand anhalten?

Kapitän
Dann hätten wir eine andere Situation.

Freudenmädchen
Das möchte ich nicht.

Kapitän
Schade.

13. DIE WEIßEN WAISEN

Pianist
Oder: Ich als Nonne.
Das wäre auch eine andere Situation.
Endlich die Alternative durch Behauptung. Dann bin ich wahr. Auch wenn ich keine Nonne bin. Oder erst recht, wenn ich doch eine Nonne bin oder war.

Kapitän
Du bist keine Nonne.

Pianist
Die Frage nach dem, was man nicht ist: immer nutzlos.

Kapitän
Jetzt geht es wieder los.

Arzt
Was?

Kapitän
Das Schwatzen.

Arzt
Manchmal bin ich von meiner eigenen Höflichkeit genervt. Ich höre zu.
Immer.
Und immer wieder!

Kapitän (amüsiert)
Warum so verkrampft? Stellen Sie sich vor, er wäre oder ist eine Nonne. Wir hätten eine vollkommen neue Situation.

Arzt (abgewandt)
Ich kann Sie leider nicht hören.

Kapitän
Jetzt lügen Sie!

Arzt
Ich befreie mich. Meine Ohren sind zu.

Kapitän
Sie lügen schon wieder.

Arzt
Lassen Sie ihn doch reden.

Kapitän (provokant)
Haben Sie Angst vor der Kirche? (der Arzt reagiert nicht)

Pianist
Wie alles begann:

Ich.
Früher.
Als Novizin.

Kapitän (provokant zum Arzt)
Sie verpassen was!

Pianist
Und jetzt:

Wo ist die Nonne in mir, die aus der Novizin wurde?

14. SCHON WIEDER ODER IMMER NOCH

Arzt (zum Pianist)
Sie schon wieder?!

Pianist
Schon wieder.
Oder immer noch.

Arzt
Man gehört eben nicht leicht dazu.

Pianist
Wenn man eine Geschichte zu erzählen hat, schon.
Eine Geschichte, um sich selbst weiter zu erzählen. Wenn man etwas erzählt, was dann tatsächlich passiert. Dann die Geschichte als Bestimmung. Und plötzlich ist es wahr, was man gesagt hat, ohne je die Wahrheit gesagt zu haben.

Ich bin eine Nonne!

Kapitän
Du bist keine Nonne!

Pianist
Oder etwas nicht erzählen, um es später doch zu erzählen. Oder etwas sagen und dann sagt man zu sich im Nachhinein, warum habe ich das jetzt gesagt? Oder etwas nicht sagen, um dann später zu sich zu sagen, warum habe ich das eigentlich nicht gesagt?
Oder gleich lügen.
Ich lüge. Ich lüge gerne. Lügen machen die Wahrheit überhaupt erst erträglich.

Arzt
Das klassische Krankheitsbild eines notorischen Lügners! Mit Sicherheit durch eine frühkindliche Verwahrlosung herbeizuführen. Nicht zu reden oder zu lügen führt directement zum Wahn.

Wo war Ihre Mutter?

Kapitän (zum Arzt)
Sie hören wohl wieder zu?

Arzt
Als ich noch in der SM-Branche tätig war, hat sich meine Artigkeit stets bewährt.

Pianist
Ich habe keine Mutter!

Freudenmädchen
Oh je, ich bin ganz fadisiert!
Pianist
Und endlich: die Wahrheit selbst als Pathologie. Eine pathologische, kosmisch-komische Kosmetikkomposition und mit dem Taktstock regiert nur einer: die Natur.

Kapitän
Vor der großen Dürre am Sewansee: die Verbalisierung des Paradieses. Am Ende ein Paradies aus Floskeln. Nicht tatsächlich, aber tatsächlicher Gründungsgrund für den Zusammenschluss und die Verschriftlichung von Hoffnung.
Wasser als Reichtum, dann Schifffahrt, Fischfang, Blütezeit. Vorbei.
Damals ein Vorschuss von Erwartungen, vorformuliert. Geburtshelfer von Phrasen. Ansichten, die unabänderlich sind. Ansichten, die man dann ändern wird. Was bleibt? Ansichten als Phrasen. Das Selbst als Staubkorn in der großen Vergänglichkeit. Uninteressant, nicht weiter von Bedeutung.

15. DAS TOUPET

Kapitän (zum Freudenmädchen)
Wo ist dein Toupet?

Freudenmädchen
Welches Toupet?

Kapitän
Dein Brusthaar für die Revolution.

Freudenmädchen
Ich habe kein Brusthaar.

Kapitän
Und wie steht es um die Revolution?

Freudenmädchen (schwärmerisch)
Sollte ich rebellieren?!
Vielleicht wird es mir doch zuteil? Keine Kapitulation mehr, die bettlägerig macht und zum Stöhnen zwingt. Sondern eine Kraft, ich als Heldin!
Heldin wovon?
Das ist nicht wichtig. Eine Heldin eben.
Ist das das Glück? Der Sieg? Und dann die feierliche Prozession zu meinen Ehren, ich reite auf einem schwarzen Hengst den Boulevard entlang, eine Fahne in den Himmel gerichtet und aus der Masse die Jubelrufe: ‚Diese Frau hat gesiegt!“.
Ich will so viel!
Und dann sage ich mir immer: Du willst aber viel!

Pianist (zum Freudenmädchen)
Du lügst zu wenig.

Kapitän (zum Pianisten)
Du redest zu viel.

Freudenmädchen
Wann ist zu viel zu viel?

Pianist
Nie.

Kapitän
Immer.

Freudenmädchen (zum Pianisten)
Wer bist du?

Pianist
Ich bin eine Nonne.

Kapitän
Du bist keine Nonne.

Pianist
Jetzt nicht mehr.

Kapitän
Davor auch nicht.

Pianist
Davor war ich Garibaldi.

Arzt
Pathologischer Lügner! Des dringenden Bedürfnisses nach Zugehörigkeit wegen, am Ende die Behauptung und Verschönerung, das Selbst überhaupt annehmen zu können, mit der Kulmination in der sich die narzisstische Spannung über die Erkenntnis des Selbst und seiner Umwelt erhebt, diese somit negiert, woraufhin ein kosmetisches Verfahren eingeleitet werden sollte, von diesem hohen Ross der Konstruktion einmal hinab zu steigen und die Rückkehr in die Gesellschaft als sozialfähiges Wesen noch zu ermöglichen und die Vergangenheit als eine fortan Vergessene zu betrachten, um durch eine sich anschließende Redekur zu einem neuen Selbst zu gelangen.

Pianist
Reden als Schachzug im Spiel mit der eigenen Identität. (Zum Freudenmädchen) Möchtest du mit mir auf Löwenjagd gehen?

Freudenmädchen
Ich jage nicht.

Pianist (schwärmerisch)
Afrika!

Freudenmädchen
Erst recht nicht in Afrika!

Pianist
Das ist Schade.

Kapitän
Wiederholte Verbalisierungen von Hoffnung und weiteren Lügen.
Kämpfe, die bald darauf vergessen sein werden, ein Konstrukteur von Unmöglichem, die Frage nach dem Grund von Konformität als stummer Klumpen im Mund.

Pianist
Das Spiel bleibt aus. (zum Freudenmädchen) Wollen wir nicht doch auf Löwenjagd gehen?

Freudenmädchen
Das möchte ich immer noch nicht!

Pianist
Schade.

Arzt
Was bleibt, so scheint, die Kraft der Assoziation und die Kommunikation als Akt ohne Gehör; Sprache an sich als Kontinuität, ein Hoffnungsträger von Vereinbarung, die aber doch verlautbaren lässt, dass am Ende irgendwie nie und niemand dieser oder einer, jenen Vereinbarung so wirklich zugesprochen hat.

Freudenmädchen
Was geschieht dann mit der Revolution?

Kapitän
Es gibt keine Revolution.

Arzt
Nur Befreiung.

Pianist
Nur Behauptung.

Kapitän
Ich hasse nicht gern im Kollektiv.

Pianist
Schon haben wir etwas gemeinsam.

Arzt (zum Pianisten)
Sie sprechen so schön. So directement aus sich selbst heraus!

Pianist
Was wollen Sie?

Arzt
Mögen Sie Männer?

Pianist
Nein.

Arzt
Und wenn ich mich nun für Sie ausziehe?

Pianist
Dann immer noch nicht.

Arzt
Ich wäre dann nackt und Sie nicht.

Pianist
Das möchte ich nicht.

Arzt
Sie könnten mich anschauen und vergleichen.

Pianist
Auch das möchte ich nicht.

Arzt
Das ist schade.

Pianist
Nein.

Arzt
Nun gut. Jahre später hat man ohnehin vergessen, wie der Sex war.

16. OH, PARSLEY!

Freudenmädchen
Wir sind immer noch hier.

Kapitän
Warum gehst du nicht fort?

Freudenmädchen
Ja, warum gehe ich nicht fort?

Kapitän
Oder: warum nicht bleiben?
Am Kai, vor der Erfindung der Container, alles noch in Schweiß treibender Handarbeit verladen, Jahrhunderte haben sich geglichen und man lag lange im Hafen, damals. Heute liegen die Maschinen lange im Hafen. Dann damals, England, Darjeeling und immer Regen. (sehr britisch betont:) Mr. Parsley, eine Melone und Spazierstock, feinster Tweed, täglich spazierte er den Kai entlang, kam auf unser Schiff zu, hielt inne und verharrte in stummer Position, um uns zu beobachten, gleich welcher Sturm, nichts konnte ihm anhaben, er stand da und schaute. Von der Dämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er hatte Dienst. Für wen oder was bleibt unergründlich. Ein ernstes Gesicht, nur manchmal, ganz leicht, Mundwinkel, die ein leichtes Schmunzeln verrieten. Eine kleine Ironie. Tagelang. Grüßte man ihn, wie einen alten Bekannten – er gehörte nun unweigerlich dazu, ja, ein Verladen ohne ihn, wäre gar nicht mehr denkbar gewesen – ein höfliches Nicken seinerseits, englische Schule, Konformität und Haltung. Er schaute. Wir verluden. Stummes Einvernehmen.
Dann, der letzte Tag, kurz vor dem Aufbruch, wahrscheinlich Kalkutta, (sehr britisch) Mr. Parsley wieder am Kai, ich ging auf ihn zu, ein Abschied oder wollte er mitkommen, wahrscheinlich Kalkutta, um auch dort beim Verladen zu zusehen? Könnten wir in, wahrscheinlich, Kalkutta überhaupt noch ohne ihn verladen? Ja, würden wir jemals wieder ohne (sehr britisch) Mr. Parsley verladen können?
Dann schrie (sehr britisch) Mr. Parsley. Ich sagte, (sehr britisch) Oh, Parsley! Und (sehr britisch) Mr. Parsley schrie weiter. Ich sagte wieder, (sehr britisch) Oh, Parsley! Und (sehr britisch) Mr. Parsley schrie immer noch. Und ich sagte schon wieder, (sehr britisch) Oh, Parsley! Und dann schrie (sehr britisch) Mr. Parsley plötzlich Worte, die auch zu verstehen waren, er schrie: Ich bin ein Suppenhuhn! Und ich sagte schon wieder, (sehr britisch) Oh, Parsley!

Alle
Oh, (sehr britisch) no, Mr. Parsley!

Kapitän
Und (sehr britisch) Mr. Parsley schrie schon wieder und immer noch und dann sagte ich schon wieder, (sehr britisch) Oh, Parsley!

Alle
(sehr britisch) Oh, no, Mr. Parsley!

Kapitän
Und (sehr britisch) Mr. Parsley schrie weiter und schreit immer noch: Ich bin ein Suppenhuhn!
Und dann ich schon wieder und immer noch, (sehr britisch) Oh, Parsley!

Alle
(sehr britisch) Oh, no, Mr. Parsley!

17.ALLES AUF ANFANG

Freudenmädchen
Rüschenvorhänge flattern im Wind!

Pianist
Vergilbtes Weiß erzählt Patina.

Kapitän
Patina von Gleichzeitigkeiten…

Arzt
…verknüpft Vergangenes mit Gegenwärtigem.

Freudenmädchen
Endlich ein Wochenende!

Pianist
Kommen, wenn die anderen gehen, zum Tastenanschlag, aber der Ton fliegt weiter.
In der Ferne der Tanz aus Noten, Tönen, Seelen.

Arzt
Ein Staub kriecht über die Straße eines namenlosen Ortes, wo namenlose Namen wohnen.
Wir sind uns begegnet, wir sind hier.

Pianist
Wir gehören nicht zusammen. Nicht hier und niemals in der Zeit.

Freudenmädchen
Man schminkt sich, um einen wichtigen Anruf zu tätigen.

Kapitän
Was der Empfänger nicht sieht:

Pianist
Das Gesicht des Anrufers.

Arzt
Ein Mann; Baskenmütze, Feuerlöscher, Stolperschritt; kommt auf uns zu…

Pianist
…um an uns vorüberzugehen.

Kapitän
Was er nicht sieht:

Pianist
Uns.

Freudenmädchen
Keine Mütze nie zum Gruß gezogen.

Arzt
Er war nie da.

Pause.

EPILOG: EVY LOG

Freudenmädchen
Westend! Was für ein schöner und besonderer Ort, um einen Gast zu empfangen!

Arzt
Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wenn man bedenkt, welche Größen hier bereits verkehrt sind!

Pianist
In der Tat. Hier ist Geschichte geschrieben worden!

Arzt
Auch wir werden heute Geschichte schreiben!

Kapitän
Haben Sie die Akten für die Übergabe dabei?

Freudenmädchen
Ja, wie besprochen, habe ich alles noch einmal neu abgeheftet. Für Sie habe ich auch noch eine Extraanlage vorbereitet, in der der Wertverlauf und die wesentlichen Folgeschritte genauestens vermerkt sind.

Kapitän
Großartig. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann! (zum Pianisten) Hatten Sie ein schönes Wochenende?

Pianist
Oh ja, wir haben wieder mit unseren Nachbarn Tennis gespielt!

Kapitän
Und, haben Sie wieder gewonnen?

Pianist.
Ja. Es war ein aufregendes Match. Ganz knapp. Drei Sätze: 6:5; 6:6; 6:4.

Kapitän
Donnerwetter! Herzlichen Glückwunsch!

Pianist
Und wie war Ihr Wochenende? Hatte Ihre jüngste Tochter nicht wieder ein Turnier im Voltigieren?

Kapitän
Ja, sie hat sich großartig gemacht. Ihr Zimmer ist mittlerweile ganz überfüllt von Abzeichen.

Alle
Wie schön!

Freudenmädchen
Sie ist aber auch so ein reizendes Kind!

Kapitän
In der Tat. In der Tat. (Beunruhigt, wird nervös) Jetzt müsste er aber bald kommen. Was sagt die Uhr?

Arzt
9:13h.

Kapitän
Bereits 13 Minuten zu spät!

Arzt
Das ist unüblich.

Kapitän
Bisher war auf ihn immer Verlass.

Freudenmädchen
Seine Sekretärin hatte mir die Ankunftszeit auch noch mal genauestens bestätigt.

Pianist
Sehr merkwürdig.

Arzt
Aber wer wird einen solchen Deal platzen lassen?

Pianist
Dazu gibt es keinen Grund.

Freudenmädchen
Nicht im Geringsten.

Kapitän
Das kann und darf nicht geschehen!

Arzt
Ein unglaublicher Profit!

Pianist
Für beide Seiten!

Arzt
Diesen Deal kann man nicht platzen lassen.

Kapitän
Wir wären ruiniert.

Pianist
Die Chinesen! Stellen Sie sich das vor!

Arzt
Er kann unmöglich zu den Chinesen gewechselt haben!

Ein Telefon klingelt (dring dring).

Freudenmädchen (ängstlich)
Oh, ein Anruf!

Alle (panisch)
Von wem?

Freudenmädchen (beruhigend)
Er müsste eigentlich jeden Moment eintreffen!

Das Telefon klingelt wieder (dring dring).

Pianist
Wo bleibt er nur?

Arzt
Er kann nicht zu den Chinesen gewechselt haben!

Das Telefon klingelt wieder (dring dring).

Kapitän
Heben Sie doch nun bitte endlich ab!

Freudenmädchen (erst ängstlich, fasst sich dann)
Guten Tag, hier die Anwaltskanzlei Casimir & Co. Frau Susanne See am Apparat.

Telefon (aus dem Off eingespielt)
Guten Tag. Hier spricht die Sekretärin von (sehr britisch) Mr. Parsley.
(Sehr britisch) Mr. Parsley ist leider unpässlich.

Alle (sehr britisch)
Oh, no!
Parsley!

Ende.


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